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Die letzten schönen Tage

Die letzten schönen Tage

Titel: Die letzten schönen Tage
Autoren: Helmut Krausser
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Kiebitze immer wieder auf ihr bewußt sehr
spendabel gewähltes Dekolleté. Es folgte eine Partie, in der Ralf nach einem
Blitzangriff den Dopplerwürfel gab, keineswegs zu früh, sein Gegner nahm die
Verdopplung des Einsatzes fälschlicherweise an, ein Blunder (grober Fehler) –
wie sich später in der Computeranalyse zeigte –, und gab den Würfel nach einem
glücklichen Pasch, der ihm kaum mehr als ein vorläufiges Überleben garantierte,
zurück. Das war nun ein surreales Freierstück, durch gar nichts zu
rechtfertigen. Ralf konnte an so ein Geschenk kaum glauben und entschloß sich
zu einem Beaver, er drehte also den Würfel nochmal auf die 16 und
behielt ihn auf seiner Seite, und als er den Schuß, den der Georgier alsbald
lassen mußte, getroffen hatte, gab Ralf ihm den Würfel mit einer mürrischen,
leicht genervten Geste auf der 32. Das war nun beim besten Willen kein Take
mehr, viel eher ein Mega-Monster-Pass. Unter normalen Umständen hätte Ralf 16
Punkte kassiert, hätte pro forma noch ein paar Spiele hinter sich gebracht und
wäre, zufrieden mit der Beute, abends mit Greta gut essen gegangen, statt von
belegten Broten zu leben. Doch genau jene genervte, etwas überhebliche und
rechthaberische Geste, die er sich einfach nicht verkneifen konnte, erzürnte
Surab, den backenbärtigen Goldfisch, einen für seine fragwürdigen Takes
ebenso wie für sein Glück berüchtigten Holzfabrikanten – und einfach nur
deshalb, weil er es sich schmerzfrei leisten konnte, akzeptierte er gegen jede
mathematische Erwartung den Würfel, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Die
Kiebitze johlten begeistert. Sie goutierten das gebotene Spektakel, das
objektive Berichterstatter als reinen Irrsinn gewertet hätten. Ralf, der in der
Stellung über 95 Prozent Gewinnwahrscheinlichkeit besaß, wurde dennoch blass,
denn es ging nun um 640 Euro, und er hatte nur hundert in der Tasche. Greta,
selbst eine Weltklassespielerin, bestellte sich trotz der frühen Uhrzeit einen
Weißwein, ihr standen Schweißperlen auf der Stirn, obgleich es in diesem Moment
noch keinen Anlaß dazu gab. Im nächsten aber schon, denn der Holzfabrikant
würfelte einen Einserpasch, setzte drei Steine, die zuvor aus dem Spiel waren,
auf dem Ace-Point ein, und Ralf würfelte, als habe ein grausamer Gott des
Trauerspiels die Regie übernommen, genau jene 6-5, die dem Gegner die
Möglichkeit eines Treffers bot. Mit jeder Fünf würde der Georgier nun den
Spielverlauf auf den Kopf stellen und eine Sequenz von 1:1943
Wahrscheinlichkeit Wirklichkeit werden lassen. Aber er würfelte nicht, er
schüttelte den Kopf, selbst ganz entgeistert, als ob ihm so viel Glück peinlich
sei. Dann bot er Ralf in gebrochenem Englisch an, die Partie abzubrechen und
unentschieden zu werten. Die Wahrscheinlichkeit auf eine Fünf betrug nur
dreißig Prozent, und Ralf, der wie jeder ernsthafte Backgammonspieler eisern an
die Gesetze der Mathematik glaubte, wandte sich an Greta, wie um sich bei ihr
rückzuversichern. Greta fand es einerseits richtig, daß Ralf sie in die
Entscheidung einbezog; früher hätte er, voller Selbstvertrauen, das unseriöse,
auch etwas taktlose Angebot schlicht abgelehnt. Andererseits fühlte sie sich
unangenehm in die Verantwortung genommen. Etwas in ihr, die Paranoia der Bad-luck-roll , die sogar Profis befällt, sah voraus, daß der
Georgier die Fünf würfeln würde, dennoch wagte sie es nicht, Ralf dazu zu
drängen, die Offerte zu akzeptieren. Dreißig Prozent sind nun mal viel weniger
als siebzig, egal, was bisher schon schiefgelaufen war. Greta dachte nach, sie
wollte nicht dumm dastehen, hinterher, als ängstliche Frau, die man ob einer
vagen Bauch-Ahnung mit einem miesen Angebot über den Tisch ziehen konnte. Mach,
was du willst, sagte sie nun, und Ralf zuckte zusammen. Er hätte sich von ihr
ein klares Votum gewünscht, stattdessen schob sie ihm die Verantwortung zurück,
und ihm blieb, nach menschlichem Ermessen, wollte er nicht jeden Respekt vor
sich verlieren, gar nichts anderes übrig, als Surab zum Wurf aufzufordern.
    Der erhob sich, schüttelte
theatralisch den Becher – und würfelte einen Fünferpasch. Die Kiebitze schlugen
sich kreischend auf die Schenkel.
    Nachts, in der Pension,
zog Greta Bilanz. Glücklicherweise hatte Surab, ein im Grunde gütiger und
verständnisvoller Mensch, nicht auf Barzahlung bestanden, sondern sich mit
hundert Euro und einer vorläufigen Stundung der Restschuld zufrieden gegeben,
zuletzt deshalb, weil Greta ihn
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