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Die letzten schönen Tage

Die letzten schönen Tage

Titel: Die letzten schönen Tage
Autoren: Helmut Krausser
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noch Möglichkeiten gab.
Und hätte ich damals jenen Glückscent von den Gleisen geholt, es wäre einiges
anders gekommen. Vielleicht nicht völlig anders, nur etwas später. Aber macht
das etwas aus? Wann etwas geschieht, ist doch egal. Es geschieht.
    Gestern um diese Uhrzeit saß
David mir gegenüber und schwallte mich voll, so wie jetzt das Meer. Weniger
beeindruckend natürlich. Aber er wirkte so stolz auf sich, stolz auf den Mut,
sich mir zu stellen. Das Gockelchen. Vorher hat Kati die Nacht über bei ihm im
Hotel verbracht, das war die schlimmste Nacht meines Lebens. Wahrscheinlich hat
Kati ihn darum gebeten, noch einmal mit mir zu reden – »unter Männern«. Als ob
sie die Entscheidung über sich an uns delegieren wollte. Und was er mir alles
an den Kopf geworfen hat! Daß ich krank bin, daß ich Kati bedroht hätte, daß
sie es nie gut mit mir haben könne, weil mir nicht zu trauen sei … Was alles
nur ein bißchen stimmt. Auslegungssache. Subjektive Wahrnehmung. Kati stand auf
der Terrasse, stumm, und hörte uns zu. Was für ein Theater. Das wünscht sich
jede Frau. Ohne mich, sagte ich laut, damit sie es hörte, würde David gar nicht
hier sein. Und ein wild in der Gegend herumfickender Kokser, der die Katze
seiner Mutter verhungern läßt und im Gefrierschrank aufbewahrt, müsse mir keine
Vorhaltungen machen, nur weil ich, vielmehr eine Kellertreppe, vor Ewigkeiten
meine Mutter –
    Sein Telefon hat geklingelt,
mittten in unsre erregte Diskussion hinein. David sah auf das Display, nahm den
Anruf nach kurzem Zögern an, schwang sich aus dem Stuhl und vollführte
plötzlich hysterische Gesten, ich solle schweigen. Dann stand er da, versteinert,
mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund, ihm war alle Farbe aus dem
Gesicht gefallen. Das kam so überzeugend – Respekt. Daß ich doch ein wenig
lachen mußte, mag man mir verzeihen.
    Seiner Nichte sei etwas
zugestoßen, hat er gesagt, und daß er aufbrechen müsse, sein Bruder brauche
ihn. Dringend. Und er flüsterte Kati etwas ins Ohr. Dann sagte er, daß sie sich
entscheiden müsse, schnell, sofort, ob sie nun mit ihm kommen wolle oder nicht.
    Das ging dermaßen an mir
vorbei, ich geriet, ich geb es zu, in Wut. Was lief da ab? Das also, dachte
ich, ist der Tod, wenn etwas kommt und dich mit einem unerlaubten Trick zu
Boden zwingt. Wenn du zu einer Person am Rande des Geschehens wirst, über die
die Luftgeister lachen. Und nie wirst du wissen, womit sie dich foppten. Ich
stampfte auf, wie um den Mittelpunkt der Welt wieder unter meine Füße zu
zwingen, aber da ging etwas anderes, Größeres vor und schob mich ab, an den
Rand. Ich stand wie ein Balljunge da.
    Und habe keine Ahnung, was und
wen Davids Bruder braucht und warum grade jetzt. Kati hat ihre Sachen gepackt.
Ich dachte kurz daran, ihr etwas anzutun. Ein Zeichen zu setzen, rebellieren
gegen die große Maschine. Das will ich nicht leugnen. Aber ich könnte ihr nie
etwas antun. Nein. Man muß nicht alles noch schlimmer machen, als es ohnehin
ist.
    Manchmal muß man auch still
sein. Und leiden. Die beiden sind weg. Und übrig geblieben sind ich und das
Meer. Wir reden nun, unter uns, sagen uns Dinge, die wir einander schon immer
sagen wollten, wäre je die Zeit dafür gewesen.
    Das scheinbar Banale ist immer
das Größte.
    Menschen gehen verloren,
vertraute Wesen sind nicht mehr da, von einem auf den anderen Tag, und andere
Wesen werden kommen und einem vertraut werden mit der Zeit – es geht so weiter,
bis es nicht mehr weitergeht. Einfach ist das und grausam und gut. Leben ist
immer ein Problem, und jeder Tod eine Lösung.
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