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Die Legende unserer Väter - Roman

Titel: Die Legende unserer Väter - Roman
Autoren: dtv
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rannte davon. Ich weiß noch, dass mein Vater lachte. Und dass es ein heiterer Abend wurde.

    Das war ein paar Jahre vor dem Unfall meines Bruders.
    Lucas hatte eine Missbildung, »ein zu kurzes Auge«, wie meine Mutter sagte. Er klagte über Nebel, grelle Lichtkreise, Blitze und Kopfweh. Im Januar 1975 wachte Lucas eines Nachts brüllend auf. Schrie, seine Augen seien zu groß. Erbrachsich. Mein Vater brachte ihn ins Krankenhaus, im Pyjama, mit einem Waschlappen auf den Augen. Ich sprach Lucas an, als er ging. Er hob den Waschlappen. Seine Augen waren schwarz. Die Pupille hatte die Iris verschluckt. Er könne mich nicht mehr sehen, sagte er, zitternd vor Angst. Er konnte mich nie wieder sehen.
    Von diesem Tag an hat mein Vater nicht mehr gesprochen. Nicht mit Mama, nicht mit Lucas, nicht mit mir, mit niemandem, nie mehr. Weil er zu traurig war und alles gesagt war. Dann wurde er krank. Legte sich hin. Das Elternzimmer wurde zu seinem Zimmer. Das Krankenlager zum Totenbett. Bis zum Schluss schlief Mama auf dem Wohnzimmersofa. Tappte mit kleinen Frauenschritten durch die Wohnung. Papa lag im Dunkeln. Lucas tastete sich an den Wänden entlang, atmete schwer und schrie immer wieder leise auf. Ich wusste, dass mein Vater bei jeder Bewegung meines Bruders zitterte. Sein Grab war bereit. Und ich war neunzehn.
    ***
    Man wird damit fertig. Es ist schrecklich, aber man wird damit fertig. Nach der langen Trauer, in der man weit weg war, in einem tiefen Loch, zermürbt vom Fehlen, vom Schweigen des Anderen, ohne Luft, ohne Licht, ohne Atem, wenn einem das Denken, die Träume, die Stimme abhandengekommen sind, man keinen Hunger, keinen Glauben, keine Nächte mehr kennt, nach endlosem Zittern und Frieren, nach all den Tagen, allem Sichplagen ohne den Anderen, nach all den verwünschten Festen, den verhassten Jahreszeiten, den sinnlosenMorgen streicht man das Leichentuch glatt, das einen so lange bedeckte. Befühlt, betrachtet noch einmal den Stoff, legt es sorgfältig zusammen, verstaut es in einer Ecke des Lebens und wartet auf das, was kommt. Mit der Trauer wird man fertig, doch die verpasste Begegnung verwindet man nicht.
    Ich habe meinen Vater verpasst. Nicht Papa, den unscheinbaren kleinen Mann hinter der großen Brille, die Eule meiner Kindheit. Der mich Wange an Wange ins Bett trug, der uns mit seinen Augen, seiner Haut liebkoste. Sondern den Anderen, meinen Vater. Den glanzlosen Helden, den tapferen Widerstandskämpfer in seinem dunklen Winkel. Ich habe diesen Unbekannten Soldaten einfach gehen lassen, den Deportierten, der in die Freiheit zurückgekehrt war, wie man ins Schweigen eintritt. Ich habe eine Seite unserer gemeinsamen Geschichte überschlagen. Ich hätte ihm zu Füßen sitzen und seinen Blick suchen sollen. Ich habe es versäumt, ihn zu bestürmen, ihn zu befragen, seine Erinnerungen einzufahren. Ich habe als Sohn versagt. So stand ich mit leeren Händen an seinem Grab, ohne ein Pfand für unser gemeinsames Leben in der Tasche. Ohne es zu wissen, hatte ich meine Kindheit mit einem Helden geteilt, aber herumtrompetet, um seine Stimme zu übertönen.

    Ich habe meinen Vater verpasst, aber er ist mir auch nicht entgegengekommen. Der Friede hatte ihn zurückversetzt in ein einfaches Leben, wo man um Erinnerungen nicht viele Worte macht. Er ging kaum zu öffentlichen Feiern, besuchte Gedenkveranstaltungen nur widerwillig. Er fand den Krieg schrecklich und die Befreiung ungerecht. Wenn er mit seinen Jungs defilierte, dann ihretwegen. Sie freuten sich, wenn sieBrumaire wiedersahen, sein Lächeln, den kleinen Schatten, den geraden Blick. Seine Handvoll Orden lagerte in einer Bonbonschachtel. Von dem Widerstandskämpfer kannte ich letztlich nur zwei Seiten in einem heute unauffindbaren Buch. Ich hatte darin seinen Namen gefunden und zwei Anekdoten über Gefahr und Mut. Und ein Foto von ihm als jungem Mann, der vor der Kamera kniet, lächelnd, mit einer Maschinenpistole in der Hand.
    Wir dachten, wir hätten noch genügend Zeit, um darüber zu reden, mein Vater und ich. Verschoben die Einweihungszeremonie auf später. Das hätten wir uns nie eingestanden. Es wurde sogar zu einer Neckerei zwischen uns. Einer Art, »bis morgen« zu sagen. Dann verlor Lucas sein Augenlicht. Mein Vater legte sich hin. Ich gab auf. Und der Tod hat uns einander entrissen.
    An diesem Tag, als ich die Fahnen mit dem roten Panther ansah, der Reihe nach die drei Veteranen betrachtete und Tristan bei seinen Regentränen lauschte, wurde ich Waise.
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