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Die Legende unserer Väter - Roman

Titel: Die Legende unserer Väter - Roman
Autoren: dtv
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ihn nur einen. Lucas war sein Großer, sein Liebling, sein Sohn. Zehn Jahre lagen zwischen uns, eine Welt. Mit Lucashat er geredet, mit mir nur gespielt. Lucas lehrte er das Leben. Für mich machte er Schattenspiele an der Wand. Ich hing an seinen Lippen. Lucas las in seinen Augen. Ihm erzählte mein Vater vom Widerstand. Von ungeahnten Gefahren, vom Kampf, von seinem Spaß daran. »Manchmal spielten wir auch Krieg«, sagte er lächelnd.
Vengeance
war für ihn ein Ort für Freunde. Man ging hin, ging wieder weg, flüsterte, wenn man dort war, und kam nie ganz davon los. Einmal, als er etwas getrunken hatte, erklärte er Lucas, wie das mit dem Töten sei. Er sagte nicht viel, nur das Wesentliche. Dass die, die getötet hätten, einander erkennten. Dass sie den gleichen Eisesblick hätten, den gleichen Schritt auf der Straße, eine besondere Art, Schweigen zu fordern.
    Meinem Bruder erzählte er auch von der Deportation am 27. April 1944. Von der sechsstelligen Nummer, die in seinen linken Unterarm tätowiert wurde. Erzählte, wie er allein aus dem Lager zurückkam. Empfangen nur von verblichenen Wimpeln. Keine Ehrung, keine Würdigung seiner Truppe, nichts. Der Krieg war wieder zum Frieden geworden, der verstörte Kriegsgefangene und Soldaten zu Tausenden ins zivile Leben entließ. Deren Leiden erschreckten, deren Heldentaten langweilten, deren Verwirrtheit nervte. Das war seine Heimkehr. Überflüssige Widerständler, überzählige Deportierte, ein Menschengeschlecht hinter Stacheldraht, und niemand wusste, wohin damit.
    Das murmelte mein Vater Lucas ins Ohr. Und ich hörte nicht zu. Wenn mein Vater seinem Großen vom Krieg erzählte, begann ich zu trompeten: den Daumen im Mund, den kleinen Finger abgespreizt, die Lippen zusammengekniffen, wie beim Hubertusblasen. Ich machte mich nicht lustig. Ichmachte Lärm. Marschierte wie auf einer Parade durchs Zimmer. Zwischen zwei Trompetenstößen hörte ich drei Worte: Krieg, Krieg, Krieg. Warum ich das machte? Darum. Weil ich nicht alles begriff. Weil ich noch klein war. Weil mir angst und bange wurde bei so viel Ernst. Weil mein Vater so traurig klang. Weil mein Bruder dasaß, zu Füßen seines Sessels, und ihm lauschte, das Kinn in die Hand gestützt. Weil meine Mutter sagte, ich solle woanders spielen. Dann stand mein Vater auf und nahm mich lachend in die Arme. Sagte, dass ich recht hätte. Dass das ohne Bedeutung sei. Dass jeder getan habe, was getan werden musste. Dass das Kapitel beendet sei. Dass man am besten darüber lachen könne, indem man den Friedenstrompeter von 1918 spiele. Dann kniff er die Lippen zusammen und trötete das seltsam melancholische Hornsignal »au drapeau«.
    An einem verregneten Donnerstag im April gingen mein Vater und ich am Kriegerdenkmal auf der Place Rihour vorbei. Zwei Jungen meines Alters kletterten auf dem steinernen Sockel herum. Einer hatte eine Blechpistole in der Hand. Ein Mann im schwarzen Mantel schrie sie an, sie sollten sofort herunterkommen. So ein Denkmal sei wie ein Grab. Niemand dürfe darauf spielen. Das sei verboten. Ein Frevel. Das eine Kind lief davon. Das andere kriegte Angst. Und rutschte aus. Fiel auf den Rücken, der Kopf ins Nasse. Es heulte ein bisschen. Der Mann ging weg. Ging über die Straße, ohne sich umzusehen. Mein Vater ließ meine Hand los, um dem Jungen aufzuhelfen.

    Ihm fehlte nichts. Er stand schniefend da mit gesenktem Kopf, Papa hockte vor ihm und hielt ihn an den Schultern.Daran kann ich mich erinnern. Zwar nicht mehr an alles, was mein Vater sagte, aber fast. Er sei im Krieg gewesen. Er habe gehungert, gefroren und Angst gehabt, es sei ihm nicht gut gegangen. Warum er sich das wohl angetan habe? Das fragte er zwei Mal. Der Junge senkte den Blick. Als ob er zur Strafe in die Ecke gestellt worden wäre. Als ob ihn das, was mein Vater sagte, nicht mehr erreichte. Ich stand etwas im Hintergrund. Beobachtete meinen Vater. Hörte ihm zu. Mir war das ein bisschen peinlich. Seinetwegen habe er sich das angetan, sagte er zu dem Jungen, Krieg, Widerstand, Angst, Hoffnung, das alles …
    »Wie heißt du denn, kleiner Mann?«
    »Freddy.«
    »Und weiter?«
    »Freddy Delsaut.«
    … nur damit er, Freddy Delsaut, und jeder andere, sein Freund, der davongelaufen sei, und all jene, die noch kommen würden, auf Kriegerdenkmälern spielen könnten.
    »Ich habe für dein Recht zu spielen gekämpft«, lächelte mein Vater.
    Ob er das verstanden habe? Der Junge schüttelte den Kopf. Dann schnappte er seinen Ranzen und
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