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Die Legende unserer Väter - Roman

Titel: Die Legende unserer Väter - Roman
Autoren: dtv
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Seinen wahren Namen habe ich nie erfahren. Er war Tristan, sonst nichts. Und für immer. Der Krieg hatte ihn so getauft und der Frieden keinen Widerspruch gewagt.
    Tristan würdigte Brumaire als Letzter, das Manuskript lag offen vor ihm. Der erste Tropfen fiel auf seine Worte. Dann ein zweiter. Mein Vater hätte nach oben geblickt und gesagt: »Endlich geht das Wetter los.« Vorbei. Wir wussten nicht, wohin mit unserem Schweigen. Ein steif gekleideter Mann bedeutete uns mit ausgestreckten Armen, wir müssten Platz für die Erde machen. Lucas fuhr mit einer knappen Bewegung seinen Stock aus und hängte sich bei Mama ein. Die trauernden Angehörigen gingen. Dann die Veteranen. Nur Tristan rührte sich nicht vom Fleck. Er las seine Rede von dem Manuskript ab, das er sich nun vor die Brille hielt, Regentropfen flossen als Tintentränen über das Blatt.

    Neun Personen und drei Fahnen. Das war das Begräbnis meines Vaters.
    Als wir die Allee entlanggingen, sah ich Lupuline. Sie musste in meinem Alter sein. Blonder Pagenkopf, sehr blasses Gesicht, gerade Nase, feingezeichneter Mund. Später bemerkte ich, dass sie beim Lächeln Grübchen in den Wangen hatte.
    Ein Mann stand neben ihr. Knapp sechzig, auf einen Krückstock gestützt, überragte er uns alle. Sie hatten sich abseits gehalten. Nicht bei den Trauernden, nicht bei den Fahnen. Etwas dahinter, zwischen zwei grasbewachsenen Gräbern. Sie hatten kein Wort gesagt. Keine Rose auf den feuchten Sarggeworfen. Die Jungs umarmten meine Mutter, Lucas und mich. Lupuline und dieser Mann gaben uns nicht einmal die Hand. Sie standen nur da. Gingen allein zum Ausgang. Und entfernten sich, während wir den Trauerzug auflösten.
    Er hieß Tescelin Beuzaboc. Sie war seine Tochter. Doch ihre Namen sollte ich erst sehr viel später erfahren. Damals waren sie bloß ein seltsames, schweigendes Paar, Gespenster, anwesend und abwesend zugleich.
    Es war meine dritte Begegnung mit ihnen.
    Das erste Mal hatte ich sie auf einem Bürgersteig in Valenciennes gesehen. Das Mädchen an der Hand seines Vaters. Bei einem Fackelzug zur Feier des Waffenstillstands. Da war ich achtzehn und Papa noch auf den Beinen. Schweigend führte er die Jungs an. Keine Fahne, nur ihre Schritte. Im Licht meiner Fackel sah ich Tescelin. Reglos, das Gesicht verschattet, zerfurcht wie ein Stück Rinde. Weiße Mähne, buschige Brauen, blaue Augen. Schwer auf seinen Stock gestützt, aber hoch aufgerichtet. Wie bereit zum Kampf oder zum Appell. Die Schultern, der Hals, der Kopf. Kinn und Blick erhoben.
    Das zweite Mal bei der Beerdigung von »Fournel«, drei Jahre vor dem Tod meines Vaters. Fournel hieß eigentlich Maujean, er war einer von den
Vengeance -Jungs
, zweimal im Kampf verwundet und in seinem Treppenhaus gestorben. Er hatte unter dem Kommando von Capitaine Duchartre in Loir-et-Cher gekämpft. Bestattet wurde er in Arras, an der Seite seiner Frau. Mein Vater verließ sein Zimmer nicht, um Fournel zu begleiten. Und wir begriffen, dass er nie mehr aufstehen würde. Mama ging für ihn zum Begräbnis. Mit Lucas und mir. Ich hatte Lucas meinen Arm um die Schulter gelegt.Er weigerte sich, die schwarze Brille tragen. Weil die Leute dann den Blick abwandten. Lupuline und Tescelin standen wieder etwas weiter weg, hinter einem Mäuerchen. Und gingen vor der Beisetzung. Grußlos, wortlos. Nur ihre Schritte auf dem Kies. Einmal drehte Lupuline sich kurz um. Betrachtete meinen Bruder und mich, die klägliche Besetzung. Ernst und seltsam. Ihr Blick war schrecklich. Irritierend stählern. Ein helles, fast weißes Blau, wie bei ihrem Vater. Ihre Schuhe aber waren einzigartig. Im Fackelschein auf dem Bürgersteig, beim Begräbnis von Fournel und zur Beerdigung meines Vaters trug Lupuline rote Schuhe. So war sie mir zum ersten Mal aufgefallen. So hatte ich sie beim zweiten Mal wiedererkannt. Und als der Sarg meines Vaters hinabsank und ich den Blick von der Lehmhalde hob, sah ich die roten Schuhe zum dritten Mal.
    ***
    Mein Vater war am 14. November 1907 zur Welt gekommen. Deshalb nannten seine Kameraden ihn »Brumaire«. Er sprach selten vom Krieg. Nie vor einem Mikrofon, nie auf einer Bühne, nur ab und zu in ruhigen Worten für einen Freund, einen Verwandten, einen Veteranen der
Corps francs
.
    »Mein Name ist Pierre Frémaux«, sagte er dann.
    Nicht »Brumaire«. Er erzählte keine Geschichte, ließ nicht die Vergangenheit Revue passieren. Er war heimgekehrt. Hatte zwei Söhne. Ich aber war lange davon überzeugt, es gebe für
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