Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Legende unserer Väter - Roman

Titel: Die Legende unserer Väter - Roman
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
miteinzubeziehen. Einmal bestellte ein Witwer bei mir ein Buch zum Gedenken an seine Frau, die tot neben ihm gelegen hatte, als er an einem Julimorgen erwachte. Manchmal sollte ich der Wirklichkeit auchein bisschen Fantasie beimischen. Dann suchte ich nach farbigeren Verben und fügte zwei, drei Märchen hinzu, um die Wirklichkeit ein wenig aufzuhübschen. »Es liest sich besser«, entschuldigte ich meine kleine Schwindelei.
    »Und was schreiben Sie eigentlich?«
    Oft war das die erste Frage, die meine Kunden stellten. Sie wollten erst etwas von mir lesen, bevor sie mir ihr Leben anvertrauten. Wie man an einem Marktstand im Freien eine Frucht prüft.
    Ich war Lehrer und sechs Jahre Journalist gewesen, Lokalreporter für »La Voix du Nord«, die »Stimme des Nordens«. Die Artikel hatte ich über die Jahre gesammelt und präsentierte sie neuen Kunden in farbigen Ordnern mit Klarsichthüllen. Dass ich Journalist war und mein Name unter den Artikeln stand, hatte für sie etwas Beruhigendes. Beim Blättern erläuterte ich, ich hätte in diesen Gemeindesälen, bei ländlichen Essen oder Schultheateraufführungen so viel von den Leuten gehört und gesehen und kleine Alltäglichkeiten notiert, dass ich auf die Idee gekommen sei, Biograph zu werden.

3
    Lupuline Beuzaboc hat schöne Hände – und rote Schuhe. Die fielen mir als Erstes auf, als sie zu mir ins Büro kam. Leuchtende spitze Pumps mit gekreuzten Riemen über den Knöcheln. Sie zog die Handschuhe aus. Ihre Fingernägel hatten dieselbe Farbe. Reines Rot, wie auf dem Feld aus Krappwurzeln gerieben. Sie zögerte kurz vor der Schwelle.
    Ich erkannte sie. Sofort. Sehr weiße Haut, helle Augen. Trotz grauer Haare lachte die Kindheit aus ihr. Höflich sah sie mich an. Ich versuchte, das Mädchen wiederzufinden. Ein Mann schaufelt den Sarg meines Vaters zu. Erde bollert auf Holz. Mama ist wie versteinert. Lucas stochert mit seinem Stock im Kies. Lupuline geht weg. Ihr Vater voran. Eine Bewegung ist mir im Gedächtnis geblieben. Der Schritt zur Seite, mit dem sie einem abgestorbenen Ast ausweicht. Und dass sie sich nicht umdreht.

    Es war Lupulines Wunsch gewesen, zu mir zu kommen, um mich kennenzulernen. Ich stand auf und rückte den Sessel aus der Ecke näher an den Schreibtisch. Sie setzte sich und schaute sich in meinem Büro um, das eigentlich einmal Gästezimmer war. Ich konnte an ihrem Blick ablesen, dass siedarin eher so etwas wie einen Alkoven oder eine Abstellkammer sah. Auf einmal kam mir mein Büro winzig klein vor.
    »Hier arbeiten Sie?«, fragte Lupuline Beuzaboc.
    Ja, sagte ich. Hier schriebe ich, die Gespräche führte ich aber bei den Kunden zu Hause. »Die Umgebung zählt genauso wie das, was sie erzählen.«
    Meine Antworten kamen mechanisch, irgendwie distanziert. Sie nickte. Ich war von ihr beeindruckt. Ich nahm ihren Brief aus dem Umschlag und legte ihn auf den Schreibtisch. Am Vortag hatte ich bei ihr angerufen. Sie wohnte in der Rue des Chats-Bossus in der Altstadt von Lille,ich in der Rue Faidherbe, nicht weit entfernt. Ob sie um 15 Uhr vorbeischauen wolle, damit wir uns beschnuppern könnten. Ich hatte sie mit ihrem Vater erwartet, aber sie war allein. Schweigend ließ sie ihren Blick über meine bunten Bücherborde wandern, die Aktenstapel, die Büroklammern am Schirm der Schreibtischlampe, den ausgeschalteten Rechner, die Pinnwand voll alter Fotos. Ich versenkte mich scheinbar noch einmal in ihren Brief. Sie öffnete ihre Tasche und fragte mich, ob ich etwas gegen Zigarettenqualm habe. Nein, sagte ich lächelnd, natürlich nicht, ganz und gar nicht. Sie nahm einen ledergebundenen Terminkalender und einen goldenen Füller heraus.
    »Mein Vater raucht nämlich«, ergänzte sie.
    Ich schlug mein Notizbuch auf. Schwarz mit violettem Schnitt, ganz neu, mit einem Gummiband verschlossen. Wir saßen einander am Schreibtisch gegenüber, ich mit meinem Notizbuch, sie mit ihrem Kalender.
    »Mein Vater wird vierundachtzig und hasst Ehrungen. Sein ganzes Leben lang hat er nur mit den Achseln gezuckt, wenn wieder jemand damit anfing. Er hat nur getan, was getanwerden musste, sagt er, da muss man keine große Geschichte draus machen. Heute komme ich zu Ihnen, um Sie zu bitten, eine Geschichte daraus zu machen.«
    Ich blickte sie an.
    »Entschuldigung, aber woraus?«
    Lupuline lachte. Ein Grübchen bildete sich auf ihrer Wange, unter dem Jochbein. Sie sei etwas verwirrt, entschuldigte sie sich. Ich schrieb auf die rechte Seite meines Notizbuchs: »Sagt, sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher