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Die Lava

Die Lava

Titel: Die Lava
Autoren: Ulrich Magin
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blickte er sich um. Eine dicke Schicht aus Bimskügelchen, jede kaum größer als eine Erbse, bedeckte knöcheltief alles: die zerbeulten Autos, den Parkplatz, die Wiesen, das Kloster, sie schwammen sogar träge auf dem See, der sich wieder beruhigt hatte. Es gab nur noch zwei Farben, das schwefelige, dunkle Grau des Himmels und den gelblich-weißen Ton des Bims.
    Auf einmal schneite es: Aus den Wolken regnete Aschestaub herab und überzog die Landschaft mit feinem grauen Pulver, bis der Laacher See einem Winteridyll glich – einem Postkartenweihnachten im Frühsommer, untermalt vom Grollen der Erde und durchfurcht von Blitzen in den Wolken.
    Der Berggrat verschwamm vor seinen Augen, der Hang wurde flüssig und troff wie in Zeitlupe nach unten. Alles flirrte vor Hitze. Die Felswand verwandelte sich in eine träge Masse, die sich stückchenweise nach unten schob. Mit dem rutschenden Hang glitten Bäume und Sträucher herab, polterte Geröll und Felsgestein in den Kessel. Einige große Baumstämme verloren ihren Halt und stürzten krachend zu Boden, rollten in der Lawine mit, verfingen sich an Steinblöcken, explodierten in Feuerkugeln und flammten auf.
    Oben rissen Spalten auf, klafften schließlich breite Furchen.
    Aus der aufgerissenen Flanke ergossen sich Lavabäche, flossen rotglühend den Hang hinab und wurden von einem Erdspalt keine zweihundert Meter weiter unten wieder verschluckt. Qualm waberte über der klaffenden Wunde.
    Bims regnete herab, weniger dieses Mal, viel weniger, in kleineren Kugeln. Der Grund bäumte sich auf, dann kam er mit einem letzten Getöse zur Ruhe. Die Zeit schien still zu stehen, aber unendliche Augenblicke später bemerkte Joe, dass es keine Steine mehr regnete, dass nur noch geringe Mengen Asche sanft herunterschneiten.
    Graue Rauchschwaden trieben von dem klaffenden Spalt im Berghang herüber und bissen Joe in den Augen. Er würgte, hustete, schnappte nach Luft und schluckte Asche und Staub. Es schmeckte bitter.
    Die Luft war eine zähe Masse aus Hitze, Feuchtigkeit und Aschestaub. Rasch presste sich Joe ein Taschentuch vor denMund; er hatte Angst zu atmen. Er blickte zu Franziska hinüber, sie hustete heftig.
    Alles tanzte ihm vor den Augen, durchdrungen von einem diffusen, fahlen Licht, als befänden sie sich im Inneren einer Höhle. Selbst die Sonne war kaum mehr als eine matte Scheibe aus Silber am Himmel.
    »Wir müssen hier weg!«, schrie Franziska unvermittelt.
    Sie klang ängstlich. Joe spähte zu ihr hinüber und sah es genau. Sie wirkte leichenblass – wie ein weißes Tuch. Dann begriff er, dass ihr Gesicht nur von der Asche verschmiert war. Vermutlich sah er genauso aus. Er wischte sich über die Stirn und betrachtete seine Hand. Sie war voller grauer Schlieren.
    Der Boden donnerte und grollte.
    »Was zum Teufel ist das?«, brüllte Joe zu Franziska herüber, noch ganz fassungslos.
    Sie hob den aschgrauen Kopf. »Jetzt kommen die pyroklastischen Ströme!«
    »Die was?« schrie Joe. Böen jagten durch den Kessel und fraßen jeden Laut mit ihrem Heulen auf.
    »Lawinen aus glühend heißem Schlamm, die wie Sturzbäche aus dem Krater fließen und alles niederwalzen, was ihnen im Weg ist. Der Schlamm wird den ganzen Kratersee ausfüllen. Wir werden sterben, wir ersticken oder werden bei lebendigem Leib gekocht …«
    Joe sah sie entsetzt an.
    Dann, nach einer kleinen Pause, brüllte sie wieder: »Wir müssen sofort hier weg.«
    Joe ging zu ihr hin, umarmte sie. »Die Autos können wir nicht benutzen. Der Krater im Hang liegt direkt an der Straße, die vom See wegführt.«
    Franziska nickte. »Wir müssen zum Kloster und dort den Hang hinauf. Es ist unsere einzige Chance.«
    Sie wankten zu der Abteikirche hoch. Der Bau hatte unter den Erdstößen gelitten, stand aber noch. Ihre Füße sankentief in die dicke Ascheschicht, rutschten bei jedem Schritt zur Seite ab. In den Regenpfützen mischte sich die Asche mit Wasser, dort war der Untergrund noch rutschiger. Es war mühsam und anstrengend. Joe hatte Mühe voranzukommen. Aber sie durften nicht stehen bleiben.
    Sie hatten die Hälfte der Strecke zum Kloster Maria Laach zurückgelegt, standen schwer atmend unweit der Parkflächen, als die Erde unvermittelt schwieg.
    Plötzlich herrschte Stille.
    Der Wind legte sich, wurde zum Hauch. Das Tosen hörte auf. Das Zittern nahm ein Ende. Vereinzelt hörten sie die Vögel zwitschern. Der Bimsregen hörte auf. Der See beruhigte sich. Kaum einen Kilometer entfernt strömten nach wie vor
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