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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit
Autoren: Ennio Flaiano
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ERSTES KAPITEL
    Die Abkürzung

1
    Ich war erstaunt, am Leben zu sein, doch ich war es müde, auf Hilfe zu warten. Müde vor allem der Bäume, die dem Abgrund entlang wuchsen, überall wo Platz war für ein Samenkorn, das zufällig hingeweht war und dort seine Tage beschloss. Die Hitze, diese weiche Luft, die auch die Morgenbrise nicht zu kühlen vermochte, verlieh den Bäumen das Aussehen von ausgestopften Tieren.
    Seit das Lastauto umgekippt war, gerade in der ersten steil abfallenden Straßenkurve, hatte der Zahn wieder angefangen, mir weh zu tun, und jetzt drängte mich etwas, das ich als unwiderstehlich empfand (vielleicht die Ungeduld der Neuralgie), diesen Ort zu verlassen.«Ich gehe», sagte ich und stand auf. Der Soldat, der zufrieden rauchte und jetzt bereit war, alles Unvorhergesehene des neuen Abenteuers mit mir zu teilen, machte ein finsteres Gesicht.«Wohin denn?», fragte er.
    «Runter zum Fluss.»Wir sahen den Fluss noch nicht, aber er lag dort unten in seinem seit Jahrhunderten
gegrabenen Tal, das von ein paar faulen Krokodilen, auf der Jagd nach Wäscherinnen, bewacht wurde. Ich dachte, ich würde einen Lastwagen finden, um auf der anderen Seite wieder hinaufzufahren. Ich musste vor dem Abend dort sein, oder ich vergeudete einen der vier Tage, die man mir zugestanden hatte, damit ich einen Zahnarzt aufsuchen konnte.
    Ja, ich musste weggehen. Jenseits des Tals erschien am weißen Himmel der gegenüberliegende Rand des Hochlands. Der Fluss hatte sich um die Berge herumgegraben, und sie waren trocken geblieben wie Knochen. Zwischen den beiden Felswänden lagen Kilometer, wie viele weiß ich nicht, denn die Entfernungen trügen bei diesem Licht, das weitab liegende winzige Einzelheiten scharf umreißt; vielleicht waren es fünf oder sechs Kilometer. Und, jenseits des Randes, das ruhige Leben der Etappenlager. Noch weiter, und das Wort«Sonntag»würde wieder seinen Wert bekommen. Ich würde das erste Bett mit Leintüchern finden, den ersten Zeitungsverkäufer. Und einen Zahnarzt.
    Der Soldat wollte nicht nachgeben.«Warten Sie», sagte er,«irgendwer wird schon vorbeikommen. »Ich betrachtete das Lastauto, das mit den Rädern gegen die Böschung lag, und schüttelte den Kopf: Es würde niemand vorbeikommen.
Nur ein Oberst war vorübergefahren, gelangweilt wie ein General. Die vorlaute Art des Soldaten wurde mir allmählich lästig. Sich gemeinsam gerettet zu haben, schien mir kein rechter Grund mehr zu sein, uns Fotografien zu zeigen, uns unsere Angelegenheiten zu erzählen, die üblichen Vermutungen über unsere Rückkehr nach Italien anzustellen. Und doch tat es mir leid, ihn im Stich zu lassen.
    «Sie lassen mich also allein?»
    Ich fing an, meine Sachen zusammenzusuchen, den Tornister, das Koppel mit der Pistole. Um meine Flucht zu beschönigen, suchte ich einen Vorwand, allerdings einen schlechten: Ich sagte zu ihm, wenn ich unten am Fluss einen Lastwagen fände (oft hielten die Fahrer dort an, um ein Bad zu nehmen), käme ich zurück, um ihm zu helfen. Der Soldat tat so, als glaube er daran, und seine plötzliche und feindselige Nachgiebigkeit ließ mich erröten. Er drückte mir die Hand ohne Wärme, wirklich enttäuscht. Nach fünfzig Schritten verdeckte mir eine Straßenbiegung die Sicht auf ihn und sein Lastauto. Seitdem habe ich ihn nicht wiedergesehen.
    War es noch sehr weit bis zur Brücke? Ich hätte eine Abkürzung nehmen können, aber ich habe nicht allzu viel Vertrauen zu den Abkürzungen in Afrika. Und doch zweigte von der Straße, an der
Seite zum Fluss, dann und wann ein Pfad ab, der nach kurzen Windungen steil abfiel zum Gehölz.
    Ich achtete also nicht auf die Abkürzungen, und nach zwei Stunden (die Hitze hatte zugenommen, und die Bäume waren erschreckend gewachsen, schienen aber immer mehr wie aus Pappkarton zu sein, immer älter und salbungsvoller, wie Heilige einer untergegangenen Religion) sah ich, dass der Buschwald dichter und die Straße heiß und sandig wurde. Der Fluss lag plötzlich vor mir. Man war dabei, eine neue Brücke zu bauen.
    Zwischen den dicken Bäumen standen noch ein paar Kreuze, und unter dem heißen Sand, in den Kisten, in denen Büchsenfleisch und Zwieback gewesen waren, lagen noch ein paar Leichen. Irgendein Soldat, der stehengeblieben war und gesagt hatte:«Ich schaff’s nicht mehr»; es hatte wohl auch Mühe gekostet, den Feldwebel, dann den Oberleutnant und dann den Hauptmann zu überreden, dass sie ihn hier ausruhen ließen. Und irgendetwas in
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