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Die Launen des Teufels

Die Launen des Teufels

Titel: Die Launen des Teufels
Autoren: Silvia Stolzenburg
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zusammenschließen, ist das Patriziat in Gilden organisiert. Wer in solch eine Gilde aufgenommen werden will, muss durch Zeugen nachweisen, dass bereits sein Vater kein Handwerker mehr war und dass er sein Vermögen nicht durch handwerkliche Arbeit erworben hat. Obwohl die Zünfte die Mehrheit des einflussreichen Teiles der Stadtbevölkerung stellen und im wirtschaftlichen Leben sowie der Stadtverteidigung eine entscheidende Rolle spielen, bleiben sie bis ins 14. Jahrhundert von der Stadtregierung ausgeschlossen, da die Sitze des Rates an die Patriziergeschlechter gebunden sind. Dies führt in vielen Städten zu blutigen Auseinandersetzungen, in denen die Zünfte um ihr Recht auf Mitregierung kämpfen.
    So auch in Ulm, wo unsere Geschichte spielt. Nach schweren, bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen den Handwerkszünften und dem städtischen Patriziat herrscht nach der Unterzeichnung des Kleinen Schwörbriefes des Jahres 1345 jedoch wieder Frieden in der mächtigen Handelsmetropole an den Ufern der Donau. Dank der Nichteinmischung des Grafen Ulrich von Württemberg, der kein Interesse an der Reichsstadt zeigt, gelingt es Ulm, sich in den folgenden Jahren zu einem der Knotenpunkte des europäischen Handels aufzuschwingen, der von Skandinavien bis nach Nordafrika, von Syrien bis nach Irland und darüber hinaus reicht. Das Machtgefüge der von einer gewaltigen Befestigungsanlage geschützten Stadt wird bestimmt durch das im Zentrum gelegene Barfüßerkloster, das Ratskollegium und die Zünfte und Gilden. Das Aufblühen der Wirtschaft hat die Stadt vor allem der günstigen Lage zu verdanken, da sie durch die ab hier schiffbare Donau zum Schnittpunkt verschiedener Handelswege wird. Dies führt dazu, dass auf dem städtischen Markt schon bald nicht nur Wein, Salz, Metalle und Gewürze aus aller Herren Länder umgeschlagen werden, sondern auch Tuche wie Leinen, Ulmer Loden und das »Gold der Stadt«: Der kostbare Barchent . Dieses Mischgewebe aus Leinen und Baumwolle unterliegt strengen Kontrollen und erzielt pro Jahr einen Gesamtwert von etwa 200 000 rheinischen Gulden – eine unvorstellbar hohe Summe. Davon fließt, aufgrund der Steuern und Abgaben, ein nicht zu verachtender Betrag in die Stadtkasse.
    Zur selben Zeit, in die der wirtschaftliche Aufschwung fällt, setzt sich in Europa das französische Kathedralprogramm durch, und es beginnt ein Wettstreit um den größten, prächtigsten und vollkommensten gotischen Sakralbau. Dieser Eifer macht auch vor Ulm nicht Halt. Um den ohnehin schon beträchtlichen Reichtum der Stadt noch weiter zu mehren und Gott ein Denkmal zu setzen, wird auch hier in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts mit dem Aushub einer riesigen Baugrube begonnen, die schon bald den Grundstein zum Bau des gewaltigsten und himmelstürmendsten Kirchenbaus der Welt empfangen soll: des Ulmer Münsters.
    Alles scheint im Aufschwung, als im Jahr 1347 in Kaffa am Schwarzen Meer die Pest ausbricht. Diese als Geißel Gottes verstandene Krankheit wird in den kommenden Jahren 20 bis 25 Millionen Menschen, also etwa ein Drittel der damaligen Bevölkerung, dahinraffen und das Rad der Geschichte weitgehend zum Stillstand bringen. Verbreitet durch den winzigen Rattenfloh, scheint es zunächst so, als würde die tödliche Plage vom Mittelmeer aufgehalten, doch dann erreichen die ersten verseuchten Pelzlieferungen Deutschland. Wo es besonders die international Handel treibenden Metropolen trifft …

Kapitel 1
 
    Ulm, Oktober 1349
     
    »Komm schon, Anabel, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!«
    Mit einem schuldbewussten Einziehen des Kopfes quittierte das schlanke, rotblonde Mädchen, das wie gebannt in den vor seinen Füßen gähnenden Abgrund starrte, die Aufforderung der Freundin, machte jedoch keinerlei Anstalten, sich von dem Anblick der gewaltigen Baugrube loszureißen. Beinahe ein Dutzend Fuß tief hatten sich die schlammverkrusteten Werkzeuge der stöhnenden und fluchenden Arbeiter bereits in den von unzähligen Steinen durchsetzten Boden gefressen, der sich mit einer knietiefen Wasserschicht an seinen Peinigern rächte.
    »Wenn wir nicht bis zur Vesper zurück sind, reißt uns Henricus den Kopf ab!«, setzte Vren hinzu und ergriff den Oberarm ihrer Begleiterin. »Was ist denn daran so spannend?«, fragte sie mit einem verächtlichen Blick auf das unansehnliche Loch, das immer noch Anabels gesamte Aufmerksamkeit fesselte. Der seit Tagen unablässig fallende Regen hatte den schweren Boden der
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