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Die Kunst des guten Beendens

Titel: Die Kunst des guten Beendens
Autoren: Katharina Ley
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keine Kinder gebären, und wir alle werden älter und werden eines Tages sterben. Es ist unmöglich, das zu verändern. Diese narzisstischen Kränkungen kompensieren die meisten Menschen mit unbewussten Phantasien und Träumen. Dort sind sie ewig jung und unsterblich, allmächtig und bisexuell.
    Wir Menschen haben unbewusst oder bewusst diese unmöglichen, verwegenen narzisstischen Wünsche. Im Unbewussten streben wir danach, sie in Anlehnung an die frühesten Verschmelzungs- und Befriedigungserlebnisse zu erfüllen. Erst die Bewusstmachung der Wünsche ermöglicht es, einen Umgang mit ihnen zu finden. Mit den verbotenen (psychoanalytisch ödipalen, Schuld erzeugenden) und mit den unmöglichen (narzisstischen, beschämenden) Wünschen fertig zu werden erfordert Einsicht, Verzicht und Trauer.
    Trauer darum, nicht alles haben zu können. Trauer um die eigene Beschränktheit, Trauer um die eigene Sterblichkeit. Trauer darüber, im Leben immer wieder einige Dinge beenden und loslassen zu müssen.
    Da sowohl die Phantasien von totaler Verschmelzung als auch jene von totaler Trennung den psychischen Tod bedeuten, hat sich die menschliche Phantasie einen sogenannten Übergangsraum zwischen Phantasie und Wirklichkeit, zwischen Innen- und Außenwelt, erschaffen. In diesem Übergangsraum findet das kindliche, aber auch das erwachsene Spiel statt. Phantasie und Realität gehen ineinander über und wechseln einander ab. Es ist für alles Raum und Zeit da. Mehr noch: Raum und Zeit können im Spiel transzendiert werden. 2
    In einem Übergangsraum zwischen Realität und Phantasie werden die Künste erschaffen: Musik, Malerei und Zeichnen, gestaltende Kunst, Literatur und Filme. In einem Wechselspiel von Phantasie, künstlerischer Imagination undKompetenzen werden Raum und Zeit innovativ erschlossen und kunstvoll gestaltet. Künstlerische Produktion verzaubert die Wahrnehmung und die sinnliche Erfahrung, erhebt in ungeahnte Höhen und lässt in Abgründe blicken.
    Auch die Psychotherapie bildet einen Übergangsraum. Im geschützten Rahmen darf über alles gesprochen werden. Es finden Phantasien und Erlebnisse, Wünsche und ihre Versagungen und Erfüllungen ihren Platz. Das Sprechen wird probiert und geübt und bildet einen Raum für Probephantasien und Probehandeln.
    Übergangsräume und Übergangsobjekte sind eine Möglichkeit, mit dem Verbotenen und dem Unmöglichen einen Umgang zu finden. Sei es das Halten und Bewahren, sei es das Loslassen und Beenden. Immer wieder für sich herauszufinden, was ansteht, ist wahrlich eine Kunst, eine Lebenskunst.
Alles hat seine Zeit
    Stirb und werde!

    Anfangen hat seine Zeit, und beenden hat seine Zeit. Auf die Welt kommen hat seine Zeit, und sterben hat seine Zeit. Sich verheiraten hat seine Zeit, und sich scheiden lassen hat seine Zeit. Gesund sein hat seine Zeit, und krank sein hat seine Zeit. Fröhlich sein hat seine Zeit, und traurig sein hat seine Zeit. Lachen hat seine Zeit, und weinen hat seine Zeit.
    Es ist mir eine tröstliche Aussage, dass alles seine Zeit hat. Anfang und Ende sind darin eingebettet. Wir Menschen brauchen diesen Trost, weil sowohl ein Anfang wie ein Ende meistens mit Schmerzen und Anstrengungen verbunden sind. In naturverbundenen Kulturen gehört das Wissen um Anfang und Ende immanent zur Kultur. Es gibt Rituale, die diese Anfänge und Enden gestalten und ihnen damit Sinn verleihen. Alles hat seine Ordnung. Alles hat seine Zeit.
    Die Natur mit ihren Zyklen von Werden und Vergehen gibt diesen Rhythmus vor. Eine Heilerin der australischen Aborigenes erzählt der fremden weißen Frau, die als Ärztin ihr Vertrauen gefunden hatte:
    »Alle Menschen sind Geister, die auf dieser Welt nur zu Besuch sind. Und alle Geister sind ewige Wesen. Alle Begegnungen mit anderen Menschen sind Erfahrungen, und alle Erfahrungen sind ewige Verbindungen. Die Menschen schließen den Kreis einer jeden Erfahrung. Wenn du einen Menschen verlässt und in deinem Herzen noch Groll gegen ihn hegst, ist dieser Kreis noch nicht geschlossen, und die Erfahrung wird sich später in deinem Leben wiederholen. Du wirst nicht nur einmal leiden, sondern immer wieder, bis du etwas gelernt hast. Man soll beobachten, aus dem Geschehenen lernen und weiser werden. Es ist gut, für die Erfahrung zu danken oder sie zu segnen und dann in Frieden weiterzugehen.« 3
    Die weiße Ärztin befand sich mit einer Gruppe von Aborigines auf einer langen Wanderung durch die australische Wüste. Ein Aborigine war am Tag zuvor
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