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Die Kunst des guten Beendens

Titel: Die Kunst des guten Beendens
Autoren: Katharina Ley
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schwer gestürzt und hatte ein Bein gebrochen. Er war auf wundersame, der weißen Ärztin unerklärliche Weise geheilt worden. Am Morgen danach schienen die tags zuvor beträchtlichen Verletzungen keine Nachwirkungen mehr zu zeigen. Für den Verletzten und die Gruppe war die Erfahrung abgeschlossen, und die Wanderung ging weiter. Der Kreis war geschlossen. Jetzt verwendete man auf ihn, den vormals Verletzten, keine Aufmerksamkeit und keine Zeit mehr.
    Am selben Abend ergaben sich Gespräche darüber, wie der sterbliche Körper und der unsterbliche Teil des Wesens zueinander stehen. Es war die Rede davon, welche Rolle die Gefühle und Gemütsverfassungen für Gesundheit und Wohlbefinden spielen. Die Aborigines glauben – so berichtet die weiße Frau –, dass die gefühlsmäßige Einstellung einen Menschen prägt. So hatten die eingeborenen Heiler den gebrochenen Knochen des verletzten Mannes gerichtet, indem sie dem Körper die Vorstellung der Perfektion vermittelten. Mit ihrenKöpfen und Herzen hatten sie dabei genauso viel gearbeitet wie mit ihren Händen. Der Patient war offen für eine Heilung und bereit, die Gesundheit zu empfangen. Er glaubte daran, sofort und vollständig geheilt werden zu können. Was der weißen Ärztin wie ein Wunder vorkam, war für die Stammesmitglieder völlig selbstverständlich.
    Es lässt sich phantasieren, dass das nicht immer gelingt. Und wenn es nicht gelingt, dann ist der betreffende Mensch zum Sterben bereit. Dann wäre auch ein Kreis geschlossen.
    Die Aborigines können sich auch nicht vorstellen, in der Wüste umzukommen, weil sie kein Wasser finden und deshalb wütend und mutlos werden. Für sie sterben (fremde) Menschen an ihren Emotionen, an ihrer Verzweiflung, wenn sie aufgegeben haben. Und was wäre das für eine Welt, fragt sich die weiße Frau, die solche Einsichten zum Mittelpunkt des menschlichen Bewusstseins machen würde?
    Eines Tages wollte der Werkzeugmacher dieser Gruppe die weiße Frau sprechen. Er war ein älterer Mann, der sich auf die Herstellung von Werkzeugen, Pinseln, Kochgerät und vielen anderen Gebrauchsgegenständen spezialisiert hatte. In der letzten Zeit hatte er unter großen Muskelschmerzen gelitten, die seine Arbeit beeinträchtigten. Eines Nachts hatte er von einer Schildkröte geträumt, die ganz schief ging, weil sie auf der einen Seite keine Beine mehr hatte. Als die weiße Frau diesen Traum mit dem Werkzeugmacher besprach, kam dieser zum Entschluss, dass es an der Zeit war, jemand anderen sein Handwerk zu lehren. Der selbsterzeugte Druck, sein Handwerk gut und mit Freude auszuführen, war zu groß geworden. Deshalb die Schmerzen – erzählt die weiße Frau. Wie die Schildkröte in seinem Traum befand er sich nicht mehr im Gleichgewicht – bei ihm ging es um das Gleichgewicht – zwischen Arbeit und Spiel. In modernen Termini ausgedrückt: seine ›work-life-balance‹ stimmte nicht mehr; das Verhältnis von Arbeit und Leben war gestört.
    In den folgenden Tagen beobachtete die weiße Frau, wie der Werkzeugmacher anderen sein Handwerk beibrachte. Als siesich bei ihm nach seinen Schmerzen erkundigte, lächelte er und sagte: »Wenn das Denken beweglich wird, werden auch die Gelenke beweglich. Ich habe keine Schmerzen mehr.« 4
    Bewahren und halten hat seine Zeit – bis es nicht mehr so gut geht. Bewahren und halten – bis zum »Gehtnichtmehr«, dies ist eine Redewendung. Dann ist es gut, wenn ein Traum, ein anderer Mensch, eine Fehlleistung einem zeigen, dass ein weiterer Schritt notwendig wird. Doch zuvor will der Kreis geschlossen werden.
    Alles hat seine Zeit. Gewohnheiten haben ihre Zeit, und Veränderungen haben ihre Zeit. Verletzungen haben ihre Zeit, und Heilungen haben ihre Zeit. Cees Nooteboom lässt eine Figur in einem Roman in die australische Wüste aufbrechen. Zuvor war sie auf einem anderen Kontinent Opfer einer mehrfachen Vergewaltigung geworden, und nun sucht sie Heilung im Land ihrer Kindheitsträume. Und dort, in der Leere, in der Stille der Wüste, wird sie der Wüste gleich, der Stille gleich. Sie ist angekommen. Ein Kreis ist geschlossen. »Und wenn ich wieder gehe, brauche ich nichts mitzunehmen, ich habe alles bei mir.« 5 Es ist schließlich die Begegnung mit einem »schwarzen Mann«, einem Aborigine, der sie, die weiße Frau, annimmt. Mit ihm holt sie ihren Schatten ein und erlebt sich dunkel und hell zugleich. Und sie denkt, dass sie ein Leben lang herumziehen wird, um aus der Welt ihre Wüste zu machen. Eine Stille
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