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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
Autoren: J.M. Coetzee
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geändert«, sagt sie. »Er kommt nun doch nicht mit. Ich wusste, dass es so kommt. Er sagt, wir sollen den Zug nehmen.«
    »Den Zug nehmen? Wohin? Bis zum Endbahnhof? Was machst du dann, wenn ihr dort ankommt, du und das Kind allein? Nein. Ruf Diego an. Sag ihm, er soll das Auto bringen. Ich springe ein. Ich habe keine Ahnung, wohin die Reise geht, aber ich komme mit euch.«
    »Er wird nicht einwilligen. Er wird das Auto nicht aufgeben.«
    »Es ist nicht sein Auto. Es gehört euch allen dreien. Sag ihm, er hat es lang genug gehabt, jetzt bist du an der Reihe.«
    Ein Stunde später taucht Diego auf, unwirsch, streitlustig. Doch Inés schneidet sein Gemurre ab. In Stiefeln und Mantel steht sie da und führt sich so herrisch auf, wie er es noch nie erlebt hat. Während Diego mit den Händen in den Taschen herumsteht, stemmt sie einen schweren Koffer auf das Autodach und bindet ihn dort fest. Als der Junge kommt und seine Kiste mit den Fundstücken hinter sich herzieht, schüttelt sie energisch den Kopf. »Drei Dinge, mehr nicht«, sagt sie. »Kleine Dinge. Entscheide dich.«
    Der Junge wählt ein nicht funktionierendes Uhrwerk aus, einen Stein mit einem weißen Saum darin, eine tote Grille in einem Glas und das vertrocknete Brustbein einer Möwe. Ruhig hebt sie den Knochen mit zwei Fingern auf und wirft ihn fort. »Wirf jetzt den Rest in die Abfalltonne.« Der Junge macht große Augen, ist sprachlos. »Zigeuner führen keine Museen mit sich«, sagt sie.
    Schließlich ist das Auto vollgepackt. Er, Simón, begibt sich vorsichtig auf den Rücksitz, gefolgt von dem Jungen, gefolgt von Bolívar, der sich zu ihren Füßen niederlässt. Viel zu schnell fährt Diego auf der Straße nach La Residencia, wo er ohne ein Wort aussteigt, die Tür zuknallt und mit großen Schritten davongeht.
    »Warum ist Diego so wütend?«, fragt der Junge.
    »Er ist daran gewöhnt, der Prinz zu sein«, sagt Inés. »Er ist es gewöhnt, dass er seinen Willen bekommt.«
    »Und bin ich jetzt der Prinz?«
    »Ja, du bist der Prinz.«
    »Und bist du die Königin und Simón ist der König? Sind wir eine Familie?«
    Er wechselt Blicke mit Inés. »So etwas wie eine Familie«, sagt er. »Im Spanischen gibt es kein Wort für das, was wir genau sind, also wollen wir uns so nennen: Davids Familie.«
    Der Junge lehnt sich in seinem Sitz zurück und wirkt zufrieden mit sich.
    Langsam fahrend – jedes Mal wenn er schaltet, verspürt er einen Stich – lässt er La Residencia hinter sich und sucht die Hauptverkehrsstraße nach Norden.
    »Wo fahren wir hin?«, fragt der Junge.
    »Nach Norden. Hast du eine bessere Idee?«
    »Nein, aber ich will nicht in einem Zelt leben, wie an dem anderen Ort.«
    »Belstar? Eigentlich ist das keine schlechte Idee. Wir können nach Belstar fahren und ein Schiff zurück ins alte Leben nehmen. Dann sind wir alle unsere Sorgen los.«
    »Nein! Ich will kein altes Leben, ich will ein neues Leben!«
    »Ich hab das nur zum Spaß gesagt, mein Junge. Der Hafenmeister in Belstar wird keinem erlauben, das Schiff zurück zum alten Leben zu nehmen. Da ist er sehr streng. Keine Rückkehr. Daher heißt es entweder ein neues Leben oder das Leben, das wir haben. Irgendwelche Vorschläge, Inés, wo wir ein neues Leben finden könnten? Nein? Dann wollen wir einfach weiterfahren und sehen, was sich ergibt.«
    Sie finden die Fernverkehrsstraße nach Norden und folgen ihr, zuerst durch die Industrievororte von Novilla, dann durch unebenes Ackerland. Die Straße windet sich allmählich in die Berge hinauf.
    »Ich muss kacken«, verkündet der Junge.
    »Kann das nicht warten?«, fragt Inés.
    »Nein.«
    Sie haben, wie sich herausstellt, kein Toilettenpapier. Was hat Inés in ihrer Aufbruchshektik sonst noch vergessen?
    »Haben wir
Don Quijote
im Auto?«, fragt er den Jungen.
    Der Junge nickt.
    »Opferst du eine Seite vom
Don Quijote

    Der Junge schüttelt den Kopf.
    »Dann musst du eben einen schmutzigen Hintern haben. Wie ein Zigeuner.«
    »Er kann ein Taschentuch benutzen«, sagt Inés steif.
    Sie halten an; sie fahren weiter. Er findet allmählich Gefallen an Diegos Auto. Es sieht nicht besonders attraktiv aus, seine Bedienung ist etwas umständlich, aber der Motor macht einen recht robusten, recht zuverlässigen Eindruck.
    Von den Bergen geht es hinunter in leicht hügliges Buschland mit hier und da verstreuten Gebäuden, ganz anders als die sandige Einöde südlich der Stadt. Über lange Strecken ist ihr Auto das einzige Fahrzeug auf der
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