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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
Autoren: J.M. Coetzee
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Eugenio ist gegangen. Der Fahrer ist auch fort, sein Auftrag nicht erfüllt. Er wurde bei Inés und dem Jungen zurückgelassen, erst einmal sicher hinter der verschlossenen Tür seiner alten Wohnung. Bolívar, der seine Pflicht getan hat, ist auf seinen Posten vor dem Heizgerät zurückgekehrt und beobachtet von dort ernst die Lage und wartet mit aufgestellten Ohren auf den nächsten Eindringling.
    »Wollen wir uns nicht hinsetzen und die Situation in Ruhe besprechen, wir drei?«, schlägt er vor.
    Inés schüttelt den Kopf. »Es ist keine Zeit mehr für weitere Besprechungen. Ich rufe jetzt Diego an und sage ihm, er soll uns abholen.«
    »Euch abholen und nach La Residencia bringen?«
    »Nein. Wir fahren, bis wir außer Reichweite sind.«
    Kein langfristiger Plan, kein genialer Fluchtplan, soviel ist klar. Er fühlt mit ihr, dieser sturen, humorlosen Frau, deren Leben, bestehend aus Tennisspielen und Cocktails zur Dämmerstunde, er völlig umgekrempelt hat, als er ihr ein Kind gab; deren Zukunft nun zusammengeschrumpft ist auf ein zielloses Herumfahren auf Nebenstraßen, bis es ihre Brüder langweilt oder bis ihnen das Geld ausgeht und sie keine andere Wahl hat, als zurückzukommen und ihr kostbares Gut auszuliefern.
    »Was hältst du davon, David«, sagt er, »wenn du nach Punta Arenas zurückgehst, nur für eine Weile – wenn du zurückgehst und ihnen zeigst, wie klug du bist, indem du Klassenerster wirst? Wenn du ihnen zeigst, dass du besser rechnen kannst als sie alle, wie du die Regeln einhalten und ein guter Junge sein kannst. Wenn sie das dann gesehen haben, werden sie dich nach Hause kommen lassen, das verspreche ich dir. Dann kannst du wieder ein normales Leben führen, das Leben eines normalen Jungen. Wer weiß, vielleicht bringen sie in Punta Arenas sogar einmal eine Tafel für dich an:
Der berühmte David war hier

    »Wofür werde ich berühmt sein?«
    »Das müssen wir abwarten. Vielleicht wirst du ein berühmter Zauberer sein. Vielleicht ein berühmter Mathematiker.«
    »Nein. Ich will mit Inés und Diego im Auto fortfahren. Ich will ein Zigeuner sein.«
    Er wendet sich wieder an Inés. »Ich beschwöre dich, Inés, überleg es dir noch einmal. Bestehe nicht auf diesem unbesonnenen Schritt. Es muss einen besseren Weg geben.«
    Inés richtet sich auf. »Hast du deine Meinung schon wieder geändert? Willst du, dass ich mein Kind Fremden ausliefere – das Licht meines Lebens ausliefere? Was glaubst du, was für eine Mutter ich bin?« Und zu dem Jungen: »Geh und packe deine Sachen.«
    »Ich bin fertig mit Packen. Kann Simón mich auf der Schaukel anstoßen, bevor wir losfahren?«
    »Ich bin nicht sicher, dass ich irgendjemanden anschieben kann«, sagt er, Simón. »Ich habe meine alte Stärke nicht, weißt du.«
    »Nur ein bisschen. Bitte.«
    Sie gehen hinunter zum Spielplatz. Es hat geregnet; der Sitz der Schaukel ist nass. Er wischt ihn mit dem Ärmel trocken. »Nur ein paarmal anstoßen«, sagt er.
    Er kann nur mit einer Hand anstoßen; die Schaukel bewegt sich kaum. Doch der Junge scheint glücklich zu sein. »Jetzt bist du an der Reihe, Simón«, sagt er. Erleichtert lässt er sich auf der Schaukel nieder und gestattet dem Jungen, ihn anzuschieben.
    »Hast du einen Vater oder einen Paten gehabt, Simón?«, fragt der Junge.
    »Ich bin ziemlich sicher, dass ich einen Vater hatte und er mich auf der Schaukel angestoßen hat, wie du jetzt mich. Wir haben alle Väter, das ist ein Naturgesetz, wie ich dir gesagt habe; leider verschwinden einige von ihnen oder gehen verloren.«
    »Hat dein Vater dich hoch hinauf gestoßen?«
    »Bis ganz hoch oben.«
    »Bist du gefallen?«
    »Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals gefallen wäre.«
    »Was passiert, wenn du fällst?«
    »Kommt darauf an. Wenn du Glück hast, holst du dir nur eine Beule. Wenn du Pech hast, großes Pech hast, kannst du dir einen Arm oder ein Bein brechen.«
    »Nein, was passiert, wenn du
fällst

    »Ich verstehe nicht. Meinst du, während du durch die Luft fällst?«
    »Ja. Ist es wie fliegen?«
    »Nein, überhaupt nicht. Fliegen und fallen sind nicht dasselbe. Nur Vögel können fliegen; wir Menschen sind zu schwer.«
    »Aber nur eine kleine Weile, wenn man hoch oben ist, dann ist es wie fliegen, nicht wahr?«
    »Wahrscheinlich, wenn du vergisst, dass du fällst. Warum fragst du?«
    Der Junge zeigt ihm ein geheimnisvolles Lächeln. »Darum.«
    Auf der Treppe treffen sie auf eine finster blickende Inés. »Diego hat seine Meinung
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