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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
Autoren: J.M. Coetzee
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Hier haben wir ein Kind, das offenbar eigene Ansichten über, ausgerechnet, die Arithmetik hat – nicht über Geschichte oder Sprache, sondern über schlichte Arithmetik –, Ansichten, die es sehr wahrscheinlich schon bald überwinden wird. Was ist es denn für ein Verbrechen für ein Kind, wenn es behauptet, zwei plus zwei ist drei? Wie sollte das die gesellschaftliche Ordnung erschüttern? Aber deswegen wollen Sie ihn seinen Eltern entreißen und ihn hinter Stacheldraht einsperren! Einen Sechsjährigen!«
    »Es gibt keinen Stacheldraht«, wiederholt die Frau geduldig. »Und das Kind ist nicht nach Punta Arenas überwiesen worden, weil es nicht addieren kann, sondern weil es Betreuung durch Spezialisten braucht. Pablo«, sagt sie, an ihren stummen Begleiter gewandt, »warte hier. Ich würde gern unter vier Augen mit diesem Herrn hier sprechen.« Und zu ihm: »Señor, darf ich Sie bitten, mit mir zu kommen?«
    Eugenio nimmt seinen Arm, doch er wehrt den jungen Mann ab. »Mir fehlt nichts, danke, solange ich nicht schnell gehen muss.« Für die Frau erklärt er: »Ich komme gerade aus dem Krankenhaus. Eine Verletzung am Arbeitsplatz. Ich bin noch ein wenig schmerzempfindlich.«
    Sie sind im Treppenhaus allein. »Señor«, sagt die Frau leise, »verstehen Sie bitte, ich bin keine Beamtin, die Ausreißer wieder in die Schule bringt. Ich bin ausgebildete Psychologin. Ich arbeite mit den Kindern in Punta Arenas. Während der kurzen Zeit, die David bei uns war, ehe er fortlief, übernahm ich es, ihn genau zu beobachten. Weil er – da stimme ich Ihnen zu – sehr jung ist, um fort von zu Hause zu sein, und mir ging es darum, dass er sich nicht verlassen fühlen sollte.
    Was ich gesehen habe, war ein liebes Kind, sehr aufrichtig, sehr direkt, ohne Scheu, über seine Gefühle zu reden. Ich habe noch etwas anderes gesehen. Ich sah, wie schnell ihn die anderen Jungen ins Herz schlossen, besonders die älteren Jungen. Sogar die raubeinigsten. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass sie für ihn schwärmten. Sie wollten ihn zu ihrem Maskottchen machen.«
    »Zu ihrem Maskottchen? Die einzige Art von Maskottchen, die ich kenne, sind Tiere, die man mit einer Girlande schmückt und an einem Strick herumführt. Worauf kann man da stolz sein?«
    »Er war ihr Liebling, der Liebling von allen. Sie verstehen nicht, warum er weggelaufen ist. Sie sind untröstlich. Sie fragen jeden Tag nach ihm. Warum erzähle ich Ihnen das, Señor? Damit Sie verstehen, dass David von Anfang an einen Platz für sich in unserer Gemeinschaft von Punta Arenas gefunden hat. Punta Arenas ist nicht wie eine normale Schule, in der ein Kind einige Stunden täglich verbringt und unterrichtet wird und dann nach Hause geht. In Punta Arenas sind Lehrer und Schüler und Berater eng zusammengeschweißt. Warum ist David dann fortgelaufen, könnten Sie fragen? Nicht weil er unglücklich war, kann ich Ihnen versichern. Es geschah, weil er ein weiches Herz hat und den Gedanken nicht ertragen konnte, dass Señora Inés sich nach ihm sehnt.«
    »Señora Inés ist seine Mutter«, sagt er.
    Die Frau zuckt mit den Schultern. »Wenn er ein paar Tage gewartet hätte, hätte er zu Besuch nach Hause kommen können. Können Sie Ihre Frau nicht überreden, ihn freizugeben?«
    »Und wie stellen Sie sich vor, dass ich sie überreden soll, Señora? Sie haben sie erlebt. Was glauben Sie, welche Zauberformel ich besitze, die den Willen einer solchen Frau bricht? Nein, Ihr Problem ist nicht, wie Sie David seiner Mutter wegnehmen. Dazu haben Sie die Macht. Ihr Problem ist, dass Sie ihn nicht festhalten können. Wenn er sich einmal entschließt, nach Hause zu seinen Eltern zu kommen, dann kommt er. Sie haben nicht die Mittel, ihn aufzuhalten.«
    »Er wird solange fortlaufen, als er glaubt, seine Mutter rufe ihn. Deshalb bitte ich Sie, mit ihr zu reden. Überzeugen Sie sie, dass es das Beste für ihn ist, mit uns zu kommen. Weil es wirklich das Beste ist.«
    »Sie werden Inés nie davon überzeugen, dass es für ihr Kind das Beste ist, ihr weggenommen zu werden.«
    »Dann überzeugen Sie sie wenigstens, ihn ohne Tränen und Drohungen gehen zu lassen, ohne ihn aus der Fassung zu bringen. Weil er, so oder so, kommen muss. Das Gesetz ist das Gesetz.«
    »Das mag so sein, aber es gibt höhere Überlegungen als Gesetzestreue, höhere Verpflichtungen.«
    »Wirklich? Nicht dass ich wüsste. Für mich, vielen Dank, ist das Gesetz genug.«

Neunundzwanzig
    D ie beiden Beamten sind gegangen.
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