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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
Autoren: J.M. Coetzee
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Beziehung seine Mutter. Sie kennen unseren Sohn nicht so, wie wir ihn kennen. Es ist nichts mit ihm los, das korrigiert werden müsste. Er ist ein sensibler Junge, der gewisse Schwierigkeiten mit dem schulischen Lehrplan hat – weiter ist da nichts. Er sieht Fallstricke, philosophische Fallstricke, wo es ein normales Kind nicht tun würde. Sie können ihn nicht für eine philosophische Meinungsverschiedenheit bestrafen. Sie können ihn nicht aus seinem Zuhause und seiner Familie reißen. Das werden wir nicht zulassen.«
    Auf seine Rede folgt ein langes Schweigen. Hinter ihrem Wachhund hervor starrt Inés die Frau streitlustig an. »Wir werden es nicht zulassen«, wiederholt sie schließlich.
    »Und Sie, Señor?«, fragt die Frau, an Eugenio gewandt.
    »Señor Eugenio ist ein Freund«, schaltet er, Simón, sich ein. »Er hat mich freundlicherweise aus dem Krankenhaus herbegleitet. Er hat mit dieser Auseinandersetzung nichts zu tun.«
    »David ist ein außergewöhnliches Kind«, sagt Eugenio. »Sein Vater ist ihm sehr zugetan. Das habe ich mit eigenen Augen gesehen.«
    »Stacheldraht!«, sagt Inés. »Was für Straftäter haben Sie in Ihrer Schule, dass Sie Stacheldraht brauchen, um sie einzusperren?«
    »Der Stacheldraht ist ein Märchen«, sagt die Frau. »Eine reine Erfindung. Ich habe keine Ahnung, wie das entstanden ist. Es gibt keinen Stacheldraht in Punta Arenas. Im Gegenteil, wir haben –«
    »Er ist durch den Stacheldraht gegangen!«, unterbricht sie Inés mit wieder erhobener Stimme. »Er hat seine Kleidung zerfetzt! Und Sie haben die Frechheit zu behaupten, es gebe keinen Stacheldraht!«
    »Im Gegenteil, wir haben eine Politik der offenen Tür«, fährt die Frau tapfer fort. »Unsere Kinder können frei ein und aus gehen. An den Türen sind nicht einmal Schlösser. David, sage uns der Wahrheit gemäß, gibt es Stacheldraht in Punta Arenas?«
    Als er jetzt genauer hinsieht, bemerkt er, dass der Junge während der ganzen heftigen Auseinandersetzung anwesend war, halb hinter seiner Mutter versteckt, ruhig zuhörend, den Daumen im Mund.
    »Gibt es wirklich Stacheldraht?«, wiederholt die Frau.
    »Es gibt dort Stacheldraht«, sagt der Junge langsam. »Ich bin durch den Stacheldraht gegangen.«
    Die Frau schüttelt den Kopf, zeigt ein kleines ungläubiges Lächeln. »David«, sagt sie sanft, »du weißt und ich weiß, das ist geschwindelt. Es gibt keinen Stacheldraht in Punta Arenas. Ich lade Sie alle ein, mitzukommen und sich selbst zu überzeugen. Wir können ins Auto steigen und sofort hinfahren. Kein Stacheldraht, überhaupt keiner.«
    »Ich brauche mich nicht zu überzeugen«, sagt Inés. »Ich glaube meinem Kind. Wenn er sagt, dass es dort Stacheldraht gibt, dann ist es wahr.«
    »Aber ist es wahr?«, sagt die Frau, an den Jungen gewandt. »Ist es richtiger Stacheldraht, den wir mit eigenen Augen sehen können, oder ist es eine Art von Stacheldraht, den nur gewisse Menschen sehen und berühren können, gewisse Menschen mit einer lebhaften Phantasie?«
    »Es ist richtiger Stacheldraht. Es ist wahr«, sagt der Junge.
    Ein Schweigen tritt ein.
    »Darum geht es also«, sagt die Frau schließlich. »Stacheldraht. Wenn ich Ihnen, Señora, beweisen kann, dass es keinen Stacheldraht gibt, dass das Kind nur Geschichten erfindet, werden Sie ihn dann gehen lassen?«
    »Das können Sie niemals beweisen«, sagt Inés. »Wenn das Kind sagt, dort gibt es Stacheldraht, dann glaube ich ihm, dass es dort Stacheldraht gibt.«
    »Und Sie?«, fragt die Frau.
    »Ich glaube ihm auch«, antwortet er, Simón.
    »Und Sie, Señor?«
    Eugenio wirkt verlegen. »Ich müsste es selbst sehen«, sagt er schließlich. »Sie können nicht erwarten, dass ich mich festlege, ohne es in Augenschein genommen zu haben.«
    »Wir scheinen in eine Sackgasse geraten zu sein«, sagt die Frau. »Señora, ich überlasse es Ihnen. Sie haben die Wahl: Entweder richten Sie sich nach dem Gesetz und übergeben uns das Kind, oder wir sehen uns gezwungen, die Polizei einzuschalten. Wofür entscheiden Sie sich?«
    »Nur über meine Leiche nehmen Sie ihn mir weg«, sagt Inés. Sie wendet sich an ihn. »Simón! Tu etwas!«
    Er starrt sie hilflos an. »Was soll ich denn tun?«
    »Das wird keine permanente Trennung sein«, sagt die Frau. »David kann an jedem zweiten Wochenende nach Hause kommen.«
    Inés schweigt verbissen.
    Er appelliert zum letzten Mal. »Señora, bitte überlegen Sie doch. Was Sie vorschlagen, wird das Herz einer Mutter brechen. Und wofür?
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