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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
Autoren: J.M. Coetzee
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Straße.
    Sie erreichen eine Stadt mit Namen Laguna Verde (warum? – es gibt hier keine Lagune), wo sie tanken. Eine Stunde vergeht, volle fünfzig Kilometer, ehe sie die nächste Stadt erreichen. »Es wird spät«, sagt er. »Wir sollten uns nach einer Übernachtungsmöglichkeit umsehen.«
    Sie fahren die Hauptstraße hinunter. Kein Hotel in Sicht. Sie halten an einer Tankstelle an. »Wo finden wir die nächste Unterkunft?«, fragt er den Tankwart.
    Der Mann kratzt sich den Kopf. »Wenn Sie ein Hotel wollen, müssen Sie weiter bis Novilla.«
    »Wir kommen gerade aus Novilla.«
    »Dann weiß ich auch nicht«, sagt der Tankwart. »Die Leute kampieren gewöhnlich einfach im Freien.«
    Sie kehren zur Fernverkehrsstraße zurück und fahren in die einbrechende Nacht hinein.
    »Werden wir heute Nacht Zigeuner sein?«, fragt der Junge.
    »Zigeuner haben Wohnwagen«, antwortet er. »Wir haben keinen Wohnwagen, nur dieses enge kleine Auto.«
    »Zigeuner schlafen unter Hecken«, sagt der Junge.
    »Gut. Sag mir, wenn du die nächste Hecke siehst.«
    Sie haben keine Landkarte. Er hat keine Ahnung, was vor ihnen an der Straße liegt. Schweigend fahren sie weiter.
    Er blickt über die Schulter. Der Junge ist eingeschlafen, die Arme um Bolívars Hals. Er sieht in die Hundeaugen.
Beschütze ihn
, sagt er, obwohl er kein Wort äußert. Die eisigen Bernsteinaugen starren unbewegt zurück.
    Er weiß, dass der Hund ihn nicht mag. Aber vielleicht mag der Hund niemanden; vielleicht gibt es sein Herz nicht her, jemanden zu mögen. Was spielt das für eine Rolle, ob man jemanden mag oder liebt, verglichen mit dem Treusein?
    »Er schläft«, sagt er leise zu Inés. Und dann: »Tut mir leid, dass ausgerechnet ich mit dir kommen muss. Dir wäre doch dein Bruder lieber gewesen?«
    Inés zuckt mit den Schultern. »Ich habe immer gewusst, dass er mich im Stich lassen würde. Er muss der egozentrischste Mensch auf der Welt sein.«
    Es ist das erste Mal, dass sie einen ihrer Brüder in seiner Gegenwart kritisiert hat, das erste Mal, dass sie zu ihm hält.
    »Man wird sehr egozentrisch, wenn man in La Residencia lebt«, fährt sie fort.
    Er wartet auf mehr – über La Residencia, über ihre Brüder –, aber sie hat genug gesagt.
    »Ich habe nie zu fragen gewagt«, sagt er: »Warum hast du den Jungen angenommen? An dem Tag, als wir uns begegneten, hattest du scheinbar eine solche Abneigung gegen uns.«
    »Es kam zu plötzlich, zu überraschend. Du bist wie aus dem Nichts aufgetaucht.«
    »Alle großen Geschenke kommen wie aus dem Nichts. Das solltest du wissen.«
    Stimmt das? Kommen große Geschenke wirklich wie aus dem Nichts? Was ist in ihn gefahren, das zu sagen?
    »Glaubst du denn«, sagt Inés (und er kann das Gefühl hinter ihren Worten nicht überhören), »glaubst du denn, ich hätte mich nicht nach einem eigenen Kind gesehnt? Was glaubst du denn, wie es gewesen ist, die ganze Zeit in La Residencia eingeschlossen zu sein?«
    Jetzt kann er das Gefühl benennen: Bitterkeit.
    »Ich habe keine Ahnung, wie es gewesen ist. Ich habe La Residencia nie verstanden, oder wie du dort gelandet bist.«
    Sie hört die Frage nicht, oder hält sie nicht für wert, beantwortet zu werden.
    »Inés«, sagt er, »ich möchte dich zum letzten Mal fragen: Bist du sicher, dass du das wirklich tun willst – aus dem Leben, das du kennst, weglaufen –, und das Ganze nur, weil das Kind sich nicht mit seinem Lehrer versteht?«
    Sie schweigt.
    »Das ist kein Leben für dich, ein Leben auf der Flucht«, lässt er nicht locker. »Und auch mir sagt es nicht zu. Und was den Jungen angeht, er kann nur eine Zeitlang Ausreißer sein. Früher oder später muss er, wenn er heranwächst, seinen Frieden mit der Gesellschaft machen.«
    Ihre Lippen pressen sich zusammen. Sie starrt wütend in die Dunkelheit hinaus.
    »Denk darüber nach«, schließt er. »Denk gut nach. Aber was du auch beschließt, sei versichert, dass ich« – er hält inne und sträubt sich gegen die Worte, die hinausdrängen – »dass ich euch bis ans Ende der Welt folgen werde.«
    »Ich will nicht, dass er so wird wie meine Brüder«, sagt Inés, so leise, dass er sich anstrengen muss, sie zu verstehen. »Ich will nicht, dass er ein Beamter oder ein Lehrer wird wie dieser Señor León. Ich will, dass er etwas aus seinem Leben macht.«
    »Das wird er sicherlich. Er ist ein außergewöhnliches Kind, mit einer außergewöhnlichen Zukunft. Wir beide wissen das.«
    Die Scheinwerfer erfassen ein gemaltes Schild
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