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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
Autoren: J.M. Coetzee
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trage ihn jetzt! Wo ist das Zauberpulver?« Er kramt in der Schachtel und holt ein Glasröhrchen heraus. »Ist das das Zauberpulver, Simón?«
    Er öffnet das Röhrchen und riecht am silbrigen Pulver. Es ist geruchlos.
    An der Wand der
cabaña
befindet sich ein großer, von Fliegen verdreckter Spiegel. Er stellt den Jungen vor den Spiegel, knöpft das Cape am Hals zu. Es reicht bis zum Boden und liegt in dichten Falten um seine Füße herum. »Hier: halte die Kerze in einer Hand. Halte das Zauberpulver in der anderen. Bist du bereit zum Zauberspruch?«
    Der Junge nickt.
    »Gut. Streue das Pulver über die Kerzenflamme und sage den Zauberspruch.«
    »Abrakadabra«, sagt der Junge und streut das Pulver. Es fällt als kurzer Regen zu Boden. »Bin ich schon unsichtbar?«
    »Noch nicht. Versuch es mit mehr Pulver.«
    Der Junge taucht die Kerzenflamme in das Glasröhrchen. Eine mächtige Lichteruption, dann völlige Dunkelheit. Inés stößt einen Schrei aus; er fährt selbst zurück, geblendet. Der Hund fängt wie toll zu bellen an.
    »Kannst du mich sehen?«, kommt die Stimme des Jungen, ganz leise und unsicher. »Bin ich unsichtbar?«
    Keiner sagt ein Wort.
    »Ich kann nicht sehen«, sagt der Junge. »Rette mich, Simón.«
    Er tastet sich zu dem Jungen, hebt ihn auf, stößt den Umhang mit dem Fuß fort.
    »Ich kann nicht sehen«, sagt der Junge. »Meine Hand tut weh. Bin ich tot?«
    »Nein, natürlich nicht. Du bist weder unsichtbar noch tot.« Er tastet auf dem Boden herum, findet die Kerze, zündet sie an. »Zeig mir deine Hand. Ich sehe nicht, dass mit deiner Hand etwas nicht in Ordnung ist.«
    »Sie tut weh.« Der Junge saugt an den Fingern.
    »Du hast sie dir wahrscheinlich verbrannt. Ich sehe mal, ob die Frau noch wach ist. Vielleicht kann sie uns etwas Butter geben, um das Brennen zu lindern.« Er reicht den Jungen an Inés. Sie umarmt ihn, küsst ihn, legt ihn aufs Bett, redet in sanftem Flüsterton auf ihn ein.
    »Es ist finster«, sagt der Junge. »Ich kann nichts sehen. Bin ich im Spiegel?«
    »Nein, mein Liebling«, sagt Inés, »du bist nicht im Spiegel, du bist bei deiner Mutter und alles wird wieder gut.« Sie dreht sich zu Simón um. »Hol einen Arzt!«, zischt sie.
    »Das muss Magnesiumpulver gewesen sein«, sagt er. »Ich verstehe nicht, wie dein Freund Daga einem Kind ein so gefährliches Geschenk machen konnte. Aber dann« – Boshaftigkeit überkommt ihn – »gibt es so vieles, was ich bei deiner Freundschaft mit diesem Mann nicht verstehe. Und sorge bitte dafür, dass der Hund aufhört – sein verrücktes Gebell macht mich fertig.«
    »Hör auf zu jammern! Mach was! Señor Daga geht dich nichts an. Geh!«
    Er verlässt die Hütte, folgt dem mondbeschienenen Pfad zum Büro der Señora.
Wie ein altes Ehepaar
, denkt er.
Wir sind nie zusammen im Bett gewesen, haben uns nicht einmal geküsst, und doch streiten wir uns, als wären wir viele Jahre lang verheiratet!

Dreißig
    D er Junge schläft fest, aber als er aufwacht, ist klar, dass sein Sehvermögen immer noch beeinträchtigt ist. Er beschreibt grüne Lichtstrahlen, die durch sein Gesichtsfeld wandern, Sternkaskaden. Diese Erscheinungen scheinen ihn zu faszinieren und nicht im mindesten zu beunruhigen.
    Er, Simón, klopft an Señora Robles’ Tür. »Wir hatten gestern Nacht einen Unfall«, erzählt er ihr. »Unser Sohn muss einen Arzt aufsuchen. Wo befindet sich das nächste Krankenhaus?«
    »In Novilla. Wir können einen Krankenwagen rufen, doch er muss aus Novilla kommen. Schneller ist es, wenn Sie ihn selbst hinbringen.«
    »Bis Novilla ist es eine ziemliche Entfernung. Gibt es keinen Arzt in der Nähe?«
    »In Nueva Esperanza gibt es eine Arztpraxis, ungefähr sechzig Kilometer von hier. Ich suche die Adresse für sie heraus. Das arme Kind. Was ist passiert?«
    »Er hat mit entzündlichem Material gespielt. Es hat Feuer gefangen und das grelle Licht hat ihn geblendet. Wir dachten, vielleicht kommt sein Sehvermögen über Nacht zurück, aber es war nicht so.«
    Señora Robles schnalzt mitfühlend. »Ich will mir das anschauen«, sagt sie.
    Sie finden Inés in ungeduldiger Erwartung des Aufbruchs. Der Junge sitzt auf dem Bett, trägt den schwarzen Umhang, seine Augen sind geschlossen, auf seinem Gesicht liegt ein verzücktes Lächeln.
    »Señora Robles sagt, eine Stunde Fahrt von hier gibt es einen Arzt«, verkündet er.
    Señora Robles kniet sich steif vor den Jungen hin. »Schatz, dein Vater sagt, du kannst nicht sehen. Stimmt das? Kannst
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