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Durch Zeit und Raum

Durch Zeit und Raum

Titel: Durch Zeit und Raum
Autoren: Madeleine L'Engle
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In der Stunde, die alles entscheiden kann
    I n der großen Küche im Haus der Murrys war es hell und warm. Draußen, hinter den vorgezogenen Gardinen, prasselte der Regen in die Dunkelheit, heulte der Wind aus Nordost.
    Meg Murry O’Keefe hatte den Eßtisch mit Chrysanthemen geschmückt, und die goldgelben und ockerbraunen Blüten ließen den Raum noch heller wirken. In der Bratröhre duftete es verführerisch nach Truthahn, und Megs Mutter stand am Herd.
    Wie schön, daß sich die ganze Familie zum Thanksgiving Day daheim versammelte, dachte Meg, und jeder erfahren konnte, wie es den anderen zuletzt ergangen war. Die Zwillinge kamen von der Universität, wo Sandy Jura und Dennys Medizin studierte. Ihr Hauptinteresse galt Calvin, Megs Mann, der als einziger nicht anwesend war, weil er in London an einem Kongreß teilnahm und dort vielleicht eben jetzt einen Vortrag über das immunologische System der Wirbeltiere hielt.
    »Eine ungeheure Ehre für ihn, was Schwesterherz?« sagte Sandy.
    »Ja, bestimmt.«
    »Und wie geht’s dir, Frau O’Keefe?« Dennys blinzelte ihr zu. »Ich muß mich erst daran gewöhnen, daß du jetzt O’Keefe heißt.«
    »Ich auch.« Meg schaute zum Kamin hinüber, vor dem ihre Schwiegermutter im Schaukelstuhl saß und in die Flammen starrte. Für Meg war immer noch sie die eigentliche Frau O’Keefe. »Mir geht’s gut«, sagte sie zu Dennys. »Ganz ausgezeichnet.«
    Dennys, der sich mit Vorliebe als künftiger Arzt aufspielte, nahm das Stethoskop, das stolze Symbol seiner Würde, und drückte es Meg an das sich rundende Bäuchlein. Er grinste vergnügt, als er den starken Herzschlag des Kindes hörte. »Sehr richtig, ganz ausgezeichnet!«
    Meg erwiderte sein Lächeln und wandte sich Vater und ihrem jüngsten Bruder Charles Wallace zu. Die beiden saßen am anderen Ende des Zimmers und waren ganz in ihre Konstruktion vertieft: sie bauten an einem Modell, das das Prinzip der Tesserung verdeutlichen sollte, also die Quadratur des Raumes, die Dimension der Zeit darstellte. Es war eine eindrucksvolle und äußerst komplizierte Konstruktion aus Drähten und Kugellagern und Kunststoff, deren Teile beständig rotierten oder wie Pendel schwangen.
    Charles Wallace war immer noch klein für seine fünfzehn Jahre; ein Fremder hätte ihn bestenfalls auf zwölf geschätzt; aber sein Gesichtsausdruck und die hellen blauen Augen verrieten ungewöhnliche Intelligenz und Reife. Voll konzentriert sah er zu, wie sein Vater ein kleines Drähtchen zurechtbog. Charles war schon den ganzen Tag ziemlich schweigsam gewesen, überlegte Meg. Er sprach auch sonst nicht viel, aber heute blieb er besonders wortkarg, während sich vor dem Haus ein regelrechter Sturm ankündigte und an den Dachschindeln rüttelte.
    Auch Megs Schwiegermutter schwieg beharrlich, aber das war nicht weiter verwunderlich. Verwunderlich war bloß, daß sie die Einladung zum Abendessen überhaupt angenommen hatte. Frau O’Keefe war nur wenige Jahre älter als Mutter und wirkte doch bereits wie eine Greisin. Sie hatte fast alle Zähne verloren; ihr Haar war schmutzigblond und ungekämmt und sah aus, als sei es mit einem stumpfen Messer geschnitten worden. Frau O’Keefes Haltung verriet meist Ablehnung und Widerspruch. Sie hatte nie ein schönes Leben gehabt und haderte mit der ganzen Welt, besonders jedoch mit den Murrys. Deshalb – und vor allem, weil doch ihr Sohn in London war – hatten sie nicht ernsthaft mit ihrem Kommen gerechnet. Bisher hatte Calvins Familie auf alle freundlichen Annäherungsversuche mit frostiger Ablehnung reagiert. Calvin war immer ein As in Biologie gewesen, schon als Meg ihn kennenlernte; er war aus der Art geschlagen, und als er seinen Doktor gemacht hatte, nahmen seine Leute das als Zeichen, daß er endgültig zum Feind übergelaufen war. Wie die meisten Leute im Dorf war auch Frau O’Keefe der Ansicht, Frau Murrys zweifaches Doktorat und ihre Experimente in der zum Labor umgebauten Speisekammer seien noch längst kein Beweis dafür, daß sie wirkliche, brauchbare Arbeit leistete. Nicht zuletzt weil es ihr allgemeine Anerkennung eingebracht hatte, tolerierte man ihr Tun – aber unter Arbeit verstand man, daß jemand sein Haus in Schuß hielt oder von acht bis vier in die Fabrik oder ins Büro ging.
    Wie konnte eine solche Frau die Mutter meines Mannes werden? fragte sich Meg zum hundertsten Mal und bekam ein wenig Sehnsucht nach Calvins wachem Blick und seinem gewinnenden Lächeln. Mutter behauptet, in der Frau
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