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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
Autoren: J.M. Coetzee
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am Straßenrand.
Cabañas 5 km
. Bald darauf wieder ein Schild:
Cabañas 1 km
.
    Die betreffenden
cabañas
stehen ein Stück entfernt von der Straße, in totaler Finsternis. Sie finden das Büro; er steigt aus und klopft an die Tür. Eine Frau in einem Morgenmantel mit einer Laterne in der Hand öffnet. Seit drei Tagen gibt es keinen Strom, teilt sie ihnen mit. Kein Strom, deshalb keine Vermietung der
cabañas
.
    Inés spricht. »Wir haben ein Kind im Auto. Wir sind erschöpft. Wir können nicht die Nacht durchfahren. Haben Sie keine Kerzen für uns?«
    Er geht wieder zum Auto, schüttelt das Kind. »Zeit aufzuwachen, mein Schatz.«
    Mit einer einzigen flüssigen Bewegung erhebt sich der Hund und gleitet aus dem Auto, mit den kräftigen Schultern schiebt er ihn beiseite wie einen Strohhalm.
    Der Junge reibt sich schläfrig die Augen. »Sind wir da?«
    »Nein, noch nicht. Wir bleiben hier über Nacht.«
    Im Licht der Laterne zeigt ihnen die Frau die nächste der
cabañas
. Sie ist spärlich möbliert, hat aber zwei Betten. »Wir nehmen sie«, sagt Inés. »Können wir irgendwo etwas zu essen bekommen?«
    »Die
cabañas
sind für Selbstverpfleger«, erwidert die Frau. »Sie haben dort einen Gasherd.« Sie schwenkt die Laterne in Richtung des Herds. »Haben Sie keine Verpflegung mitgebracht?«
    »Wir haben ein Brot und etwas Fruchtsaft für das Kind«, sagt Inés. »Wir hatten keine Zeit einzukaufen. Können wir Ihnen etwas abkaufen? Vielleicht ein paar Koteletts oder Würstchen. Keinen Fisch. Das Kind isst keinen Fisch. Und etwas Obst. Und was Sie an Resten für den Hund haben.«
    »Obst!«, sagt die Frau. »Es ist lange her, dass wir das letzte Mal Obst zu sehen bekommen haben. Aber kommen Sie mit, wir schauen mal, was wir finden.«
    Die zwei Frauen gehen fort und lassen sie im Finstern zurück.
    »Ich esse doch Fisch«, sagt der Junge, »nur nicht, wenn er Augen hat.«
    Inés kommt zurück mit einer Büchse Bohnen, einer Dose mit, laut Etikett, Cocktailwürstchen in Salzlake und einer Zitrone, sowie einer Kerze und Streichhölzern.
    »Und was ist mit Bolívar?«, fragt der Junge.
    »Bolívar muss sich mit Brot begnügen.«
    »Er kann meine Würstchen essen«, sagt der Junge. »Ich hasse Würstchen.«
    Sie nehmen ein bescheidenes Mahl bei Kerzenschein ein, nebeneinander auf dem Bett sitzend.
    »Putz dir die Zähne, dann wird geschlafen«, sagt Inés.
    »Ich bin nicht müde«, sagt der Junge. »Können wir ein Spiel spielen. Können wir ›Wahrheit oder Pflicht‹ spielen?«
    Jetzt ist er an der Reihe, sich zu sträuben. »Vielen Dank, David, aber ich habe für einen Tag genug Pflichten gehabt. Ich brauche Ruhe.«
    »Kann ich dann das Geschenk von Señor Daga auspacken?«
    »Welches Geschenk?«
    »Señor Daga hat mir ein Geschenk gegeben. Er hat gesagt, ich soll es in der Zeit der Not öffnen. Jetzt ist die Zeit der Not.«
    »Señor Daga hat ihm ein Geschenk zum Mitnehmen gemacht«, sagt Inés, seinem Blick ausweichend.
    »Es ist die Zeit der Not, kann ich es also aufmachen?«
    »Es ist keine echte Zeit der Not, die echte Zeit der Not kommt noch«, sagt er, »aber mach es nur auf.«
    Der Junge läuft zum Auto hinaus und kommt mit einer Pappschachtel zurück, die er aufreißt. Sie enthält eine schwarze Satinrobe. Er nimmt sie heraus und entfaltet sie. Keine Robe, sondern ein Umhang.
    »Da ist ein Zettel«, sagt Inés. »Lies ihn.«
    Der Junge hält das Papier näher an die Kerze und liest:
Siehe da – der Zaubermantel der Unsichtbarkeit. Wer ihn trägt, wird ungesehen durch die Welt schreiten.
»Ich hab’s euch gesagt!«, schreit er und tanzt vor Aufregung. »Ich habe euch gesagt, Señor Daga kann zaubern!« Er wickelt sich in den Umhang. Er ist viel zu groß. »Kannst du mich sehen, Simón? Bin ich unsichtbar?«
    »Nicht ganz. Noch nicht. Du hast nicht die ganze Mitteilung gelesen. Hör zu.
Anweisungen für den Träger. Um Unsichtbarkeit zu erlangen, soll der Träger den Umhang vor einem Spiegel anlegen, dann das Zauberpulver entzünden und den geheimen Zauberspruch sagen. Daraufhin verschwindet der irdische Körper in den Spiegel und lässt nur den spurlosen Geist zurück.
«
    Er wendet sich an Inés. »Was denkst du, Inés? Sollen wir unseren jungen Freund den Mantel der Unsichtbarkeit anlegen und den geheimen Zauberspruch sagen lassen? Wenn er nun in den Spiegel verschwindet und nie zurückkommt?«
    »Du kannst den Umhang morgen tragen«, sagt Inés. »Jetzt ist es zu spät.«
    »Nein!«, sagt der Junge. »Ich
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