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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
Autoren: J.M. Coetzee
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»Mach das nicht noch einmal! Du kannst rausfallen und umkommen.«
    »Ist mir egal! Ich will zum anderen Leben! Ich will nicht bei dir und Inés sein!«
    Eine fassungslose Stille tritt ein. Inés starrt nach vorn auf die Straße. »Du weißt nicht, was du sagst«, flüstert sie.
    Knirschende Tritte und ein bärtiges Gesicht taucht am Fahrerfenster auf. »Danke!«, keucht der Fremde. Er reißt die hintere Tür auf. »Hallo, junger Mann!«, sagt er, dann erstarrt er, als der Hund, der auf dem Sitz neben dem Jungen ausgestreckt liegt, den Kopf hebt und ein dumpfes Knurren hören lässt.
    »Was für ein großer Hund!«, sagt er. »Wie heißt er?«
    »Bolívar. Es ist ein Schäferhund. Ruhig, Bolívar!« Der Junge schlingt die Arme um den Hund und drängt ihn vom Sitz herunter. Widerstrebend lässt sich der Hund auf dem Boden zu seinen Füßen nieder. Der Fremde nimmt seinen Platz ein; das Auto ist plötzlich erfüllt vom sauren Geruch ungewaschener Kleidung. Inés kurbelt ihr Fenster herunter.
    »Bolívar«, sagt der junge Mann. »Das ist ein ungewöhnlicher Name. Und wie heißt du?«
    »Ich habe keinen Namen. Ich muss meinen Namen noch bekommen.«
    »Dann werde ich dich Señor Anónimo nennen«, sagt der junge Mann. »Guten Tag, Señor Anónimo, ich bin Juan.« Er hält ihm die Hand hin, die der Junge nicht beachtet. »Warum trägst du einen Umhang?«
    »Es ist ein Zaubermantel. Er macht mich unsichtbar. Ich bin unsichtbar.«
    Er schaltet sich ein. »David hat einen Unfall gehabt und wir bringen ihn zu einem Arzt. Wir können Sie leider nur bis Nueva Esperanza mitnehmen.«
    »Das geht in Ordnung.«
    »Ich habe mir die Hand verbrannt«, sagt der Junge. »Wir holen uns Arznei.«
    »Tut sie weh?«
    »Ja.«
    »Deine Brille gefällt mir. Ich hätte auch gern eine solche Brille.«
    »Du kannst sie haben.«
    Nach einer ziemlich frischen Fahrt am zeitigen Morgen auf der Ladefläche eines Holzlasters ist ihr Mitfahrer froh über die Wärme und Bequemlichkeit im Auto. Aus seinem Geplauder ergibt sich, dass er im Druckgewerbe arbeitet und unterwegs nach Estrellita ist, wo er Freunde hat und wo es, wenn man dem Gerücht glauben darf, viel Arbeit gibt.
    Am Abzweig nach Nueva Esperanza hält er an, um den neuen Fahrgast herauszulassen.
    »Sind wir beim Arzt?«, fragt der Junge.
    »Noch nicht. Hier trennen wir uns von unserem Freund. Er will seine Reise nach Norden fortsetzen.«
    »Nein! Er muss bei uns bleiben!«
    Er spricht mit Juan. »Wir können Sie hier rauslassen oder Sie können mit uns in die Stadt kommen. Ganz wie Sie wollen.«
    »Ich komme mit Ihnen.«
    Sie finden die Praxis ohne Mühe. Dr. Garcia ist zu einem Hausbesuch unterwegs, teilt ihnen die Schwester mit, aber sie können gern warten.
    »Ich schau mich nach einem Frühstück um«, sagt Juan.
    »Nein, du darfst nicht gehen«, sagt der Junge. »Du verläufst dich.«
    »Ich verlaufe mich nicht«, sagt Juan. Seine Hand ist auf dem Türgriff.
    »Bleib, ich befehle es!«, schnauzt ihn der Junge an.
    »David!«, ermahnt er, Simón, das Kind. »Was ist nur heute Morgen in dich gefahren? So spricht man nicht mit einem Fremden!«
    »Er ist kein Fremder. Und nenn mich nicht David.«
    »Wie soll ich dich dann nennen?«
    »Du musst mich bei meinem richtigen Namen nennen.«
    »Und wie soll der heißen?«
    Der Junge schweigt.
    Er spricht Juan an. »Schauen Sie sich ruhig um. Wir treffen uns dann hier wieder.«
    »Nein, ich glaube, ich bleibe da«, sagt Juan.
    Der Arzt erscheint, ein kleiner, stämmiger Mann mit resoluter Ausstrahlung und dichtem silbernen Haar. Er betrachtet sie mit gespieltem Erschrecken. »Was ist das denn? Und auch noch ein Hund! Was kann ich für euch alle zusammen tun?«
    »Ich habe mir die Hand verbrannt«, sagt der Junge. »Die Frau hat Butter darauf getan, aber sie tut immer noch weh.«
    »Lass mich mal sehen … Ja, ja … Das muss wehtun. Komm mit in die Praxis und wir schauen mal, was wir da machen können.«
    »Herr Doktor, wir sind nicht wegen der Hand hier«, sagt Inés. »Wir hatten letzten Abend einen Unfall mit Feuer, und jetzt kann mein Sohn nicht mehr richtig sehen. Können Sie seine Augen untersuchen?«
    »Nein!«, schreit der Junge und steht auf, um Inés entgegenzutreten. Auch der Hund erhebt sich, tappt quer durch den Raum und nimmt seinen Platz an der Seite des Jungen ein. »Ich hab’s euch doch schon gesagt, ich kann sehen, nur ihr könnt mich nicht sehen, wegen des Zaubermantels. Er macht mich unsichtbar.«
    »Kann ich mal nachsehen?«,
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