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Totenmond

Totenmond

Titel: Totenmond
Autoren: Sven Koch
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1.
    D ie aufgeplatzten Lippen der Beute stießen weiße Atemfahnen aus. Das Keuchen trieb den Kreislauf an. Pumpte das Blut aus den Schnitten. Es lief seitlich in Rinnsalen an den Rippen entlang, sammelte sich in kleinen Pfützen auf dem rostigen Metall der Tischoberfläche. Dann riss die Beute die Augen auf. Wirbelte mit dem Kopf herum. Links. Rechts. Links. Sah erst die alten Leuchten unter der Decke an. Starrte nach vorne und wurde vom Licht der Scheinwerfer geblendet, die neben dem Kamerastativ standen. Wollte sich bewegen und begriff, dass das nicht möglich war, weil die Hand- und Fußgelenke an den Tischbeinen mit Klebeband fixiert waren. Schließlich begann sie zu jammern und zu betteln.
    Schweigend betrachtete der Mann die junge Frau. Er klappte das Rasiermesser zusammen, ließ es in der Tasche verschwinden und zog seinen Schal etwas enger. Es war fürchterlich kalt, und er hoffte, dass er sich keinen Schnupfen einfangen würde. Dann neigte er den Kopf zur Seite und blickte aus dem mit Eisblumen überzogenen Fenster, hinter dem der Vollmond sein fahles Licht vom sternenlosen Himmel auf die tiefverschneite Landschaft warf. Noch stand er nicht hoch genug.
    »Kennst du die Band Creedence Clearwater Revival?«, fragte der Mann beiläufig und wandte sich wieder um.
    Die Beute verneinte und klapperte mit den Zähnen. »Bitte«, flüsterte sie, »ich mache alles, was Sie wollen.«
    »Ich weiß«, antwortete er mit einem Seufzen, zog den Handschuh aus und griff ihr an den Hals. Drückte einmal zu und ließ dann wieder locker. Sie zuckte und bäumte sich auf.
    »Nicht!«, schrie sie. Nein, es war mehr ein Kreischen und tat in den Ohren weh. Unangenehm. Die Melodie der Verzweiflung. Sie hallte zwischen den Wänden der leerstehenden Möbelfabrik wider.
    Als endlich wieder Ruhe herrschte, dozierte der Mann: »Ich bin der Meinung, dass Creedence nur das schmückende Beiwerk für ihren Frontmann John Fogerty waren, ein Genie.«
    Er nahm die Hand wieder fort und betrachtete die Beute. Wie alt war sie noch gleich? Zweiundzwanzig? Fünfundzwanzig? Spielte das eine Rolle? Natürlich nicht.
    »Fogerty«, fuhr er fort, »hat Rocking all over the world geschrieben, das Status Quo für alle Zeiten verdorben hat. Wirklich nie von Creedence gehört?«
    »Nein, tut mir leid«, keuchte die Beute.
    »Dabei gibt es einen Klassiker, der gut zu unserer Situation passt. Bad Moon Rising. Im Text heißt es: Treib dich heute Nacht nicht herum, denn man hat es auf dein Leben abgesehen. Weil ein böser Mond aufgeht.«
    Er schenkte der Beute ein Lächeln und rieb sich die Hände. Die Kälte kroch sogar ihm bis in die Handschuhe. Er warf erneut einen Blick aus dem Fenster und sah, dass es nun an der Zeit war. Kurz darauf spürte er es auch am Reißen und Zerren in seiner Haut, am Zittern jedes einzelnen Muskels. Seine Nasenflügel blähten sich.
    Die Bestie kam hervor.

2.
    H allo, mein Name ist Alexandra Stietencron«, sprach Alex in das Handy.
    »Sie sollen alle abhauen! Ansonsten werde ich einen nach dem anderen erschießen!«
    Alex lockerte den Schal. Nicht mehr lange, dann würde sie im eigenen Saft kochen. Die Heizungen hier in der Stadtbücherei gegenüber dem Alexander-von-Kemper-Gymnasium mussten auf Anschlag stehen.
    Sie antwortete: »Darüber muss ich mit dem Einsatzleiter sprechen. Ich habe nicht die Befugnis, es selbst anzuordnen.«
    »Sie haben fünf Minuten!«
    »Okay, ich habe verstanden«, sagte Alex und blickte zu Rolf Schneider. Er saß wie ein dicker Buddha rechts neben ihr, hatte ein Headset auf und sah sie abwartend aus kleinen Schweinsäuglein an. Hinten an den Buchregalen stand Stephan Reineking mit dem Leiter des Sondereinsatzkommandos, gegen den er wie ein Strich in der Landschaft wirkte. Reineking trank Kaffee aus einem Pappbecher und verfolgte das Gespräch über Lautsprecher. Seine Geheimratsecken versteckte er unter einer Cap. Reineking hatte bis auf weiteres die Einsatzleitung – so lange, bis die Verhandlungsgruppe eintreffen würde. Vor ihm stand einer der Rollwagen, mit denen die Bibliothekare normalerweise Bücherstapel hin und her fuhren. Heute lagen zwei Laptops darauf, daneben Funkgeräte, eine schusssichere Weste, zwei Thermoskannen und ein Korb voller Süßigkeiten.
    Wieder brüllte die Stimme aus dem Telefon. »Fünf Minuten, kapiert?«
    »Ich werde das mit dem Chef besprechen. Ich kann aus rechtlichen Gründen selbst keine Entscheidungen treffen.«
    »Reden Sie keinen Scheiß! Ich weiß doch, wie das
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