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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
Autoren: J.M. Coetzee
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fragt Dr. Garcia. »Wird dein Wächter das gestatten?«
    Der Junge legt dem Hund eine beruhigende Hand auf das Halsband.
    Der Arzt nimmt dem Jungen die Sonnenbrille von der Nase. »Kannst du mich jetzt sehen?«, fragt er.
    »Du bist winzig, winzig, wie eine Ameise, und du wedelst mit den Armen und sagst:
Kannst du mich jetzt sehen?
«
    »Aha, ich verstehe. Du bist unsichtbar und keiner von uns kann dich sehen. Aber du hast auch eine verletzte Hand, die zufällig nicht unsichtbar ist. Wollen wir also in mein Sprechzimmer gehen, und lässt du mich deine Hand anschauen – den sichtbaren Teil von dir anschauen?«
    »Einverstanden.«
    »Soll ich mitkommen?«, fragt Inés.
    »Ein wenig später«, sagt der Arzt. »Zuerst müssen der junge Mann und ich uns allein unterhalten.«
    »Bolívar muss mit mir mitkommen«, sagt der Junge.
    »Bolívar kann mitkommen, wenn er sich anständig benimmt«, sagt der Arzt.
    »Was ist denn eigentlich mit Ihrem Sohn passiert?«, fragt Juan, als sie allein sind.
    »Er heißt David. Er hat mit Magnesium gespielt und es hat Feuer gefangen und die Stichflamme hat ihn geblendet.«
    »Er sagt, er heiße nicht David.«
    »Er sagt vieles. Er hat eine lebhafte Phantasie. David ist der Name, der ihm in Belstar gegeben wurde. Wenn er einen anderen Namen annehmen will, dann soll er’s tun.«
    »Sie sind durch Belstar gegangen? Ich bin auch durch Belstar gegangen.«
    »Dann wissen Sie ja, wie das System funktioniert. Die Namen, die wir benutzen, sind die Namen, die uns dort gegeben wurden, aber man hätte uns genauso gut Nummern geben können. Zahlen, Namen – sie sind gleichermaßen willkürlich, gleichermaßen zufällig, gleichermaßen unwichtig.«
    »Tatsächlich gibt es keine zufälligen Zahlen«, sagt Juan. »Sie fordern mich auf: ›Sagen Sie eine zufällige Zahl‹, und ich sage: › 96 513 ‹, weil das die erste Zahl ist, die mir einfällt, aber sie ist in Wirklichkeit nicht zufällig, es ist meine Asistencia-Nummer oder meine alte Telefonnummer oder etwas Ähnliches. Hinter einer Zahl ist immer eine Ursache.«
    »Da haben wir also noch einen von den Zahlenmystikern! Sie sollten mit David zusammen eine Schule aufmachen. Sie können die geheimen Ursachen hinter den Zahlen lehren und er kann die Menschen lehren, wie man von einer Zahl zur nächsten kommt, ohne in einen Vulkan hineinzufallen. Natürlich gibt es keine zufälligen Zahlen
unter dem Auge Gottes
. Aber wir leben nicht unter dem Auge Gottes. In der Welt, in der wir leben, gibt es zufällige Zahlen und zufällige Namen und zufällige Ereignisse, wie das, zufällig von einem Auto mitgenommen zu werden, in dem ein Mann und eine Frau und ein Kind namens David sitzen. Und ein Hund. Was war wohl die geheime Ursache hinter diesem Ereignis, was glauben Sie?«
    Bevor Juan auf diese Tirade antworten kann, wird die Tür zum Sprechzimmer aufgerissen. »Kommen Sie bitte herein«, sagt Dr. García.
    Er und Inés gehen hinein. Juan zögert, aber die klare junge Stimme des Kindes ertönt von drinnen: »Er ist mein Bruder, er muss mitkommen.«
    Der Junge sitzt auf dem Rand der Arzt-Couch, ein Lächeln des stillen Selbstvertrauens auf den Lippen, die Sonnenbrille oben auf dem Kopf.
    »Wir hatten ein gutes, langes Gespräch, unser junger Freund und ich«, sagt Dr. García. »Er hat mir erklärt, wie es kommt, dass er unsichtbar für uns ist, und ich habe ihm erklärt, warum wir für ihn wie Ameisen aussehen, die unsere Fühler in der Luft schwenken, während er hoch oben fliegt. Ich habe ihm gesagt, dass es uns lieber wäre, wenn er uns so sehen würde, wie wir wirklich sind, nicht als Insekten, und im Gegenzug hat er mir gesagt, wenn er zur Sichtbarkeit zurückkehrt, würde es ihm lieb sein, dass wir ihn so sehen, wie er wirklich ist. Ist das eine faire Wiedergabe unserer Unterhaltung, junger Mann?«
    Der Junge nickt.
    »Unser junger Freund sagt außerdem, dass Sie« – er schaut ihn, Simón, bedeutsam an – »nicht sein richtiger Vater sind, und Sie« – er wendet sich an Inés – »nicht seine richtige Mutter. Ich fordere Sie nicht auf, etwas zu Ihrer Verteidigung zu sagen. Ich habe selbst Familie, ich weiß, dass Kinder verrückte Dinge sagen können. Trotzdem, gibt es etwas, das Sie mir sagen möchten?«
    »Ich bin seine wahre Mutter«, sagt Inés, »und wir retten ihn davor, in eine Besserungsanstalt geschickt zu werden, wo er zum Kriminellen werden wird.«
    Nachdem sie ihre Meinung gesagt hat, schließt sie die Lippen und blickt
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