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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende
Autoren: Robert Littell
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verlieren.
    »Jesus soll jeden Moment auf die Erde zurückkehren, in Gestalt eines russischen Zaren«, erwiderte der Vorarbeiter träge. »Wir wollen doch nicht verpassen, wenn er über den Fluss kommt.« Er steckte sich an der Glut einer aufgerauchten türkischen Zigarette eine neue an und schlenderte hinunter zu dem Fluss, der über mehrere Kilometer hinweg parallel zur Straße verlief. Er hieß Lesnia, nach dem dichten Wald, durch den er sich auf seinem Weg vorbei an Prigorodnaja schlängelte. Um zwölf Minuten nach sechs lugte eine kalte Sonne über die Bäume und fing an, den dicken Septemberdunst dicht über dem Fluss aufzulösen, der Hochwasser führte und den Ufersaum auf beiden Seiten in seichtes Sumpfland verwandelt hatte. Man konnte hohe Grashalme sehen, die sich in der Strömung wiegten.
    Das kleine Fischerboot, das aus dem Dunst auftauchte, schaffte es nicht ganz bis ans Ufer, sodass die drei Insassen aussteigen und das letzte Stück durchs Wasser waten mussten. Die beiden Männer in Marineoffiziershemden zogen sich Schuhe und Socken aus und krempelten ihre Jeans bis zu den Knien hoch. Der dritte Insasse musste das nicht. Er war splitternackt. Auf dem Kopf trug er eine Dornenkrone, unter der Blut hervorquoll. Eine große Sicherheitsnadel steckte in der Haut zwischen seinen Schulterblättern und hielt ein Stück Pappe mit der Aufschrift Spion Kafkor. Der Gefangene, dessen Handgelenke und Ellbogen mit Elektrokabel auf dem Rücken gefesselt waren, hatte einen mehrere Wochen alten, verfilzten Bart, und sein ausgemergelter Körper war mit blauen Flecken und Brandwunden übersät, die nur von ausgedrückten Zigaretten stammen konnten. Vorsichtig watete er durch den Schlamm, bis er festen Boden erreichte, blickte sich verwirrt um und betrachtete sein Spiegelbild im seichten Wasser, während die Marineoffiziere sich die Füße mit einem alten Hemd abtrockneten, die Socken und Schuhe wieder anzogen und die Hosenbeine nach unten rollten.
    Der Spion Kafkor schien das Gesicht nicht wieder zu erkennen, das ihn da von der Wasseroberfläche aus anblickte.
    Die zwei Dutzend Bauarbeiter starrten wie gebannt auf die drei Gestalten und hatten ihre Arbeit völlig vergessen. Die Fahrer stiegen aus ihren Maschinen, die Männer mit Harken und Schaufeln standen einfach da und traten beklommen von einem Bein aufs andere. Jedem war klar, dass den nackten Christus, der jetzt von den Fallschirmjägern die Böschung hochgestoßen wurde, Schreckliches erwartete. Und ihnen war ebenso klar, dass sie Zeugen des Geschehens sein sollten, damit sie die Geschichte herumerzählen konnten. Solche Sachen passierten zurzeit ständig in Russland.
    Weiter hinten auf der frisch geteerten Straße wischte sich der Schweißer des Bautrupps die verschwitzten Hände an seiner dicken Lederschürze ab, holte dann eine große Butterbrotdose von dem Karren mit dem ganzen Schweißgerät und kletterte die Böschung hinauf, um besser sehen zu können. Der Schweißer, ein kleiner, stämmiger Mann, der eine getönte Schutzbrille trug, öffnete den Deckel der Dose und griff hinein, um die versteckte Kamera zu aktivieren, die in den Boden einer Thermosflasche eingebaut war. Er legte sich die Thermosflasche auf die Knie und fing an, den Deckel zu drehen und Fotos zu schießen.
    Unten merkte der Gefangene plötzlich, dass die Bauarbeiter ihn anstarrten, und seine Nacktheit schien ihm unangenehmer zu sein als seine missliche Lage – bis er das Loch im Boden erblickte. Es war ungefähr so groß wie ein Traktorreifen. Daneben waren dicke Holzbohlen gestapelt. Er blieb wie angewurzelt stehen, und die Marineoffiziere mussten ihn an den Oberarmen packen und die letzten Meter mitzerren. Am Rande des Lochs sank der Gefangene auf die Knie und blickte die Bauarbeiter an, die Augen hohl vor Entsetzen und den Mund geöffnet, während er durch seine ausgetrocknete Kehle rasselnd die Luft einsog. Er sah zwar Dinge, die er wieder erkannte, doch sein Verstand, der durch die Angst wie benebelt war, fand nicht die Worte, sie zu benennen: die Zwillingsschornsteine, die schmutzig weiße Rauchschwaden ausspien, die verlassene Zollstation mit einem über der Tür aufgemalten verblichenen roten Stern, die Reihe von weiß getünchten Bienenstöcken an einem Hang neben ein paar verkümmerten Apfelbäumen. Das alles war ein schrecklicher Traum, dachte er. Jeden Augenblick würde die Angst überhand nehmen, und er würde aufwachen, er würde sich den Schweiß von der Stirn wischen und noch
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