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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende
Autoren: Robert Littell
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unter dem Eindruck des Albtraums nicht wieder einschlafen können. Doch die Erde fühlte sich feucht und kalt unter den Knien an, und ein Hauch schwefelhaltiger Luft brannte ihm in der Lunge. Die kalte Sonne, die auf seiner Haut spielte, schien den Schmerz der Zigarettenwunden von neuem zu entfachen, und dieser Schmerz machte ihm klar, dass das, was geschehen war, und das, was gleich geschehen würde, kein Traum war.
    Ein glänzender Mercedes kam langsam vom Dorf her über die Landstraße gerollt, dicht gefolgt von einem Begleitfahrzeug, einem metallicgrauen Land Cruiser, der mit Leibwächtern besetzt war. Keines der Autos hatte Nummernschilder, was die Straßenarbeiter so deuteten, dass die Insassen zu wichtig waren, um von der Polizei angehalten zu werden. Der Mercedes machte eine halbe Drehung und kam quer auf der Straße zum Stehen, gut zehn Meter von dem knienden Gefangenen entfernt. Die hintere Scheibe öffnete sich eine Handbreit. Der Oligarch spähte durch eine dunkle Brille nach draußen. Er nahm die Zigarre aus dem Mund und musterte den nackten Gefangenen lange, als wollte er sich ihn und den Augenblick einprägen. Dann streckte er eine seiner Krücken aus und klopfte dem Mann, der neben dem Fahrer saß, auf die Schulter. Die Beifahrertür öffnete sich, und der Mann stieg aus. Er war mittelgroß und dünn, mit einem schmalen, verkniffenen Gesicht. Er trug Hosenträger, die seine Hose hoch auf der Taille hielten, und ein mitternachtsblaues italienisches Jackett, das wie ein Cape über einem gestärkten weißen, bis zu dem ausgeprägten Adamsapfel zugeknöpften Hemd ohne Krawatte hing. Die Initialen »S.« und »U.-S.« waren auf die Hemdtasche gestickt. Er ging zum Begleitwagen und riss einem der Leibwächter die brennende Zigarette aus dem Mund, hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger vom Körper weg und trat auf den Gefangenen zu. Kafkor hob die Augen und wich zurück, als er die Zigarette sah, aus Angst vor weiteren Brandmalen mit der glühenden Spitze. Doch S. U.-S. klemmte sie ihm bloß mit einem schwachen Lächeln zwischen die Lippen. »Das ist Tradition«, sagte er. »Der zum Tode Verurteilte hat Anspruch auf eine letzte Zigarette.«
    »Man hat mich … gefoltert, Samat«, flüsterte Kafkor heiser. Er konnte das silberne Haar des Mannes sehen, der vom Rücksitz des Mercedes aus zusah. »Man hat mich in einen stinkenden Keller gesperrt … ich wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war, ich hab jedes Zeitgefühl verloren, ich wurde … mit brüllender Musik geweckt, wenn ich einschlief. Was, erklär es mir, wenn es eine Erklärung gibt, ist der Grund?« Der Verurteilte sprach Russisch mit starkem polnischen Akzent, betonte die offenen »o« und die zweitletzte Silbe. Panik schwang in seiner Stimme, als er sagte: »Ich würde doch keinem verraten, was ich nicht wissen soll.«
    Samat zuckte die Achseln, als wollte er sagen: Darauf habe ich keinen Einfluss mehr. »Wer der Flamme zu nahe kommt, muss sich verbrennen, wenn auch nur als Warnung für andere.«
    Zitternd paffte Kafkor an der Zigarette. Der Rauch, der ihm in der Kehle brannte, schien ihn abzulenken. Samat blickte auf die Asche, wartete darauf, dass sie sich unter ihrem eigenen Gewicht krümmte und herabfiel, damit sie die Exekution endlich hinter sich bringen konnten. Kafkor, der an der Zigarette zog, nahm die Asche ebenfalls wahr. Plötzlich schien das Leben von ihr abzuhängen. Der Schwerkraft und jeder Logik zum Trotz wurde sie länger als der ungerauchte Teil der Zigarette.
    Und dann blies ein Windhauch vom Fluss die Asche ab. Kafkor spuckte den Stummel aus. » Poschol ty na chui « , flüsterte er, wobei er beide »o« in poschol bewusst betonte. »Verpiss dich!« Er ging in die Hocke und blinzelte zu den kümmerlichen Apfelbäumen am Hang über ihm. »Da!«, entfuhr es ihm, die Angst überwindend, nur um sich einem neuen Feind gegenüber zu sehen, dem Wahnsinn. »Da oben!« Er sog die Luft ein. »Ich sehe den Elefanten. Das Vieh ist ein richtiges Scheusal.«
    Auf der anderen Seite des Mercedes wurde die hintere Tür geöffnet, und eine zierliche Frau in einem knöchellangen Wollmantel und Bauerngaloschen stieg aus. Sie trug einen kleinen schwarzen Hut mit einem dichten Schleier, der ihr über die Augen fiel, sodass ihr Alter nur schwer zu schätzen war. »Josef!«, kreischte sie. Sie taumelte auf den Gefangenen zu, fiel auf die Knie und fragte den Mann im Fond des Wagens laut: »Und wenn es anfängt zu schneien?«
    Der Oligarch schüttelte
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