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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende
Autoren: Robert Littell
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1993: DER VERURTEILTE ERBLICKT DEN ELEFANTEN
    Die sieben Kilometer lange Piste vom Dorf Prigorodnaja zur vierspurigen Straße zwischen Moskau und St. Petersburg war endlich asphaltiert worden. Der Priester, der nach einem einwöchigen Zechgelage wieder aufgetaucht war, entzündete Kerzen für Innozenz von Irkurtsk, den Heiligen, der um das Jahr 1720 herum die Straße nach China ausgebessert hatte und nun die Zivilisation in Form eines Asphaltbandes mit einem frisch aufgemalten weißen Streifen in der Mitte nach Prigorodnaja bringen würde. Die Bauern, die einen klareren Blick dafür hatten, wie Mütterchen Russland funktionierte, vermuteten eher, dass dieser Fortschrittsbeweis irgendwie damit zusammenhing, dass die große Holzdatscha des verstorbenen und wenig betrauerten Lawrenti Pawlowitsch Berija vor einigen Monaten von einem Mann gekauft worden war, der von allen nur der Oligarch genannt wurde. Ansonsten wusste man praktisch nichts über ihn. Er kam unregelmäßig in einem glänzenden schwarzen Mercedes 600, das silberne Haar und die dunkle Brille eine flüchtige Erscheinung hinter getönten Scheiben. Eine Frau aus dem Dorf, die für ihn die Wäsche machte, hatte ihn angeblich einmal auf dem turmartigen Ausguck seiner Datscha gesehen, wie er wütend die Asche seiner Zigarreabschnippte, bevor er sich zu jemandem umdrehte und eine Anweisung erteilte. Die Frau, die die Wäsche aus nackter Angst vor der neumodischen Waschmaschine lieber am flachen Flussufer wusch, war zu weit weg gewesen, um mehr als ein paar Wörter aufzuschnappen – »Begraben, sag ich, aber lebendig …« –, aber der wilde Tonfall des Oligarchen sowie die Bedeutung des Gesagten hatten ihr einen solchen Schock versetzt, dass es ihr noch jedes Mal eiskalt den Rücken herunterlief, wenn sie die Geschichte erzählte. Zwei Bauern beim Holzhacken auf der anderen Seite des Flusses hatten gesehen, wie der Oligarch auf Aluminiumkrücken über den Weg hinter seiner Datscha humpelte, der zu der baufälligen Papierfabrik führte, die vierzehn Stunden am Tag, sechs Tage die Woche, weißen Rauch aus riesigen Schornsteinen ausstieß, und dann weiter zum Dorffriedhof und der kleinen orthodoxen Kirche mit den Zwiebeltürmen, von denen die verblichene Farbe abblätterte. Zwei Barsois tobten ausgelassen vor dem Oligarchen her, während er eine Hüfte vorschob und das Bein hinterherzog, um die Bewegung dann mit der anderen Hüfte zu wiederholen. Drei Männer in Ralph-Lauren-Jeans und Telnyashka, den typischen gestreiften Marineoffiziershemden, die viele Soldaten auch noch nach der Armeezeit trugen, folgten ihm, jeder eine Schrotflinte in der Armbeuge. Die Bauern hätten liebend gern einen genaueren Blick auf diesen untersetzten Mann mit den hochgezogenen Schultern riskiert, der neu in ihr Dorf gekommen war, verwarfen den Gedanken jedoch, als einer von ihnen den anderen daran erinnerte, was der Metropolit, der im Januar vor zwei Jahren aus Moskau gekommen war, um das orthodoxe Weihnachtsfest zu zelebrieren, vom Ambo aus gepredigt hatte: Wenn ihr schon so dumm seid, euch mit dem Teufel an einen Tisch zu setzen, dann nehmt um Himmels willen einen langen Löffel.
    Die Straßenarbeiter waren mit riesigen Planierraupen, Dampfwalzen und Lastern voller Teer und Schotter während der Nacht angerollt, als das Polarlicht im Norden noch wie geräuschloses Kanonenfeuer am Himmel flackerte. Es war nicht viel Phantasie vonnöten, um sich vorzustellen, dass hinter dem Horizont ein gewaltiger Krieg ausgefochten wurde. Die Männer, lange Schatten im gespenstischen Licht der Scheinwerfer, zogen vom Teer steif gewordene Jacken und kniehohe Gummistiefel an und machten sich an die Arbeit. Als der Morgen dämmerte und sie vierzig Meter Straße geteert hatten, waren das Polarlicht und die Sterne verschwunden, aber am mondlosen Himmel standen noch zwei Planeten: Mars, direkt über ihnen, und Jupiter, der im Westen noch immer über dem tiefen, vom bernsteinfarbenen Glühen Moskaus durchtränkten Dunst tanzte. Als der Bautrupp das kreisrunde Loch erreichte, das am Tag zuvor ein Bagger in die Sandpiste gegraben hatte, blies der Vorarbeiter in seine Trillerpfeife. Die Maschinen blieben stehen.
    »Was ist los?«, rief ungeduldig ein Dampfwalzenfahrer, der sich aus dem Führerhaus lehnte, durch die provisorische Atemmaske, welche er sich zum Schutz vor dem Schwefelgeruch aus der Papierfabrik aufgesetzt hatte. Die Männer, die pro Meter und nicht pro Stunde bezahlt wurden, wollten keine Zeit
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