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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende
Autoren: Robert Littell
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den Kopf. »Keine Sorge, Kristyna – er hat es in der Erde wärmer, wenn Schnee auf dem Loch liegt.«
    »Er ist wie mein eigener Sohn«, schluchzte die Frau, und ihre Stimme erstarb zu einem leisen Wimmern. »Wir dürfen ihn nicht begraben, ehe er was gegessen hat.«
    Noch immer auf den Knien und von Schluchzern geschüttelt, kroch die Frau über die Erde auf das Loch zu. Hinten im Mercedes machte der Oligarch eine Bewegung mit dem Finger. Der Fahrer sprang aus dem Wagen, presste der Frau eine Hand auf den Mund und zerrte sie zurück zu der Limousine, wo er sie wieder auf den Rücksitz bugsierte. Bevor die Tür zufiel, hörte man noch ihre Schluchzer: »Und wenn es nicht schneit, was dann?«
    Der Oligarch schloss sein Fenster und schaute sich alles Weitere durch die getönte Scheibe an. Die beiden Marineoffiziere packten den Gefangenen an den Armen, hoben ihn in das Loch und legten ihn zusammengerollt auf die Seite. Dann bedeckten sie das Loch mit den dicken Bohlen, die sie an den Enden so fest in die Erde traten, dass sie mit der unbefestigten Straße eine Ebene bildeten. Anschließend legten sie ein Drahtgeflecht über die Holzbohlen. Die ganze Zeit über fiel kein einziges Wort. Die rauchenden Arbeiter auf der Böschung sahen weg oder starrten auf ihre Füße.
    Als die Marineoffiziere das Loch abgedeckt hatten, traten sie zurück und bewunderten ihr Werk. Einer von ihnen winkte dem Fahrer eines Lasters. Der Mann kletterte hinter das Lenkrad und fuhr rückwärts bis an das Loch, betätigte dann einen Hebel, woraufhin sich die Ladefläche hob und Teer auf die Straße rutschte. Mehrere Arbeiter kamen und verteilten den Teer mit Harken, bis die Holzbohlen unter einer dicken, glänzenden Schicht verschwunden waren. Sie traten beiseite, und die Marineoffiziere gaben dem Dampfwalzenfahrer ein Zeichen. Schwarze Rauchschwaden drangen aus dem Auspuffrohr, als die rostige Maschine an den Rand des Lochs rumpelte. Der Fahrer schien kurz zu zögern, doch dann ertönte die Hupe des Mercedes und einer von den Leibwächtern, der in der Nähe stand, machte gereizt eine Bewegung mit dem Arm. »Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit«, rief er über den Lärm der Dampfwalze hinweg. Der Fahrer legte den Gang ein und rollte über das Loch, presste den Teer dicht zusammen. Auf der anderen Seite angekommen, fuhr er noch einmal rückwärts darüber, stieg dann aus und nahm das frisch geteerte Straßenstück in Augenschein. Plötzlich riss er sich die Gesichtsmaske herunter, beugte sich vor und kotzte auf seine Schuhe.
    Fast geräuschlos setzte der Mercedes zurück, wendete und rollte an dem Begleitwagen vorbei in Richtung der Datscha am Rande des Dorfes Prigorodnaja, über die Sandpiste, die schon bald mit der Landstraße Moskau-St. Petersburg – und mit der Welt – durch ein Asphaltband mit einem frisch aufgemalten weißen Streifen in der Mitte verbunden werden sollte.

1997: MARTIN ODUM ÜBERLEGT ES SICH ANDERS
    In einem verwaschenen weißen Overall, auf dem Kopf einen alten Tropenhelm, vor dem ein schützendes Moskitonetz hing, näherte sich Martin Odum behutsam den Bienenstöcken auf dem Dach. Er tat dies von der Seite her, um möglichst keiner Biene auf dem Rückweg zu den Waben in die Flugbahn zu geraten. Mit dem Rauchbläser sprühte er eine feine weiße Wolke in den nächststehenden der beiden Bienenstöcke. Der Rauch signalisierte den zwanzigtausend Bienen im Stock Gefahr, woraufhin sie sich mit Honig voll stopfen würden, der sie beruhigte. Der April war für Bienen wirklich der grausamste Monat, weil sich erst jetzt erwies, ob vom Winter noch ausreichend Honig übrig war, um nicht zu verhungern. Wenn die Rahmen zu leicht waren, würde er etwas Kandiszucker aufkochen müssen und in den Stock geben, damit die Königin und ihre Kolonie bis zum warmen Wetter überlebten, wenn die Bäume im Brower Park ausschlugen. Martin griff mit einer ungeschützten Hand hinein und löste einen der Rahmen. Er hatte immer Handschuhe getragen, bis ihm Minh, seine gelegentliche Geliebte, die in dem Chinarestaurant im Erdgeschoss unter der Billardhalle arbeitete, erzählt hatte, dass Bienenstiche Hormone stimulierten und den Sexualtrieb steigerten. In den zwei Jahren, die er nun schon auf dem Dach seines Hauses in Brooklyn Bienen züchtete, war Martin zwar schon oft gestochen worden, doch er hatte nie auch nur die geringste hormonelle Wirkung verspürt. Andererseits weckten die Stiche irgendwie Erinnerungen in ihm, die er aber nicht genau einordnen
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