Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende
Autoren: Robert Littell
Vom Netzwerk:
Sie wären der Ansicht, dass ich in keine Kategorie passe, die in der Fachliteratur behandelt wird.«
    Dr. Treffler ließ ein äußerst seltenes Lächeln aufblitzen, das in ihrem ansonsten ausdruckslosen Gesicht wie ein Fremdkörper wirkte. »Sie fallen aus dem Rahmen, Martin, keine Frage. Keinem meiner Kollegen ist so jemand wie Sie schon untergekommen. Es wird ganz schön Aufsehen erregen, wenn mein Aufsatz erscheint –«
    »Mit geänderten Namen zum Schutz der Unschuldigen.«
    Zu Martins Überraschung ließ sie so etwas wie Humor durchscheinen. »Mit geänderten Namen auch zum Schutz der Schuldigen.«
    Es gibt wiederum andere Dinge, dachte Martin jetzt (und setzte das Gespräch mit Dr. Treffler im Geiste fort), die man noch so oft tun kann, ohne dass sie einem besser gelingen. Zum Beispiel (sagte er, ihre Frage vorwegnehmend) hart gekochte Eier schälen. Zum Beispiel in billige Hotelzimmer eindringen, um verheiratete Männer beim Oralsex mit Prostituierten zu fotografieren. Zum Beispiel bei einer CIA-Psychologin den Eindruck vermitteln, du hättest keine großen Hoffnungen, deine Identitätskrise zu überwinden. Sagen Sie mir doch noch einmal, was Sie sich von unseren Gesprächen erhoffen?, konnte er sie förmlich fragen hören. Er gab die Antwort, die sie, wie er glaubte, hören wollte: Theoretisch möchte ich wissen, welche von meinen Legenden ich selbst bin. Er konnte sie fragen hören, Wieso theoretisch? Er überlegte einen Augenblick lang. Dann schüttelte er den Kopf und hörte zu seiner Verblüffung seine eigene Stimme laut erwidern: »Ich weiß nicht, ob ich es überhaupt wissen muss – in der Praxis kann ich mein ödes Leben vielleicht besser weiterführen, wenn ich es nicht weiß.«
    Martin hätte den fiktiven Dialog mit Dr. Treffler noch ein wenig verlängert, wenn auch nur, um die Zeit totzuschlagen, doch da klingelte es an der Haustür. Er tappte barfuß durch den Billardsaal, den er in ein Büro umfunktioniert hatte, indem er einen der beiden Spieltische als Schreibtisch benutzte und auf dem anderen Lincoln Dittmanns Sammlung von Schusswaffen aus dem Bürgerkrieg ausgelegt hatte. Auf dem oberen Absatz der schmalen, schwach beleuchteten Holztreppe im Hausflur blieb er stehen und spähte nach unten, um zu sehen, wer da geklingelt hatte. Durch die Buchstaben und Mr. Pinkertons Privatdetektivlogo auf der Fensterscheibe der Haustür konnte er eine Frau ausmachen, die mit dem Rücken zur Tür stand und den Verkehr auf der Albany Avenue beobachtete. Martin wartete, ob sie noch einmal klingeln würde. Als sie es tat, stieg er ins Foyer hinunter und öffnete die beiden Schlösser der Tür.
    Die Frau trug einen langen Regenmantel, obwohl die Sonne schien, und hatte den Riemen einer Ledertasche über eine Schulter geschlungen. Das dunkle Haar war im Nacken zu einem Zopf gebunden, der ihr bis hinunter ins Kreuz fiel – die Stelle, wo Martin seine Pistole getragen hatte (er hatte den Gürtel des Holsters so eingestellt, dass die Waffe genau in Höhe einer alten Granatsplitterwunde lag), als er noch mit etwas Tödlicherem als Zynismus bewaffnet war. Der Saum ihres Regenmantels bauschte sich auf, als sie sich mit Schwung zu ihm umdrehte.
    »Sie sind also der Detektiv?«, wollte sie wissen.
    Martin taxierte sie so, wie er Leute taxieren gelernt hatte, die er eines Tages vielleicht in einer Gegenspionagekartei wieder erkennen musste. Sie sah aus wie Mitte bis Ende dreißig – das Alter von Frauen zu schätzen war noch nie seine Stärke gewesen. Sie hatte einen leichten Silberblick, und feine Fältchen breiteten sich fächerartig um die Augen aus. Die dünnen Lippen umspielte etwas, das aus der Ferne als der Anflug eines Lächelns hätte durchgehen können, aus der Nähe aber wie der Ausdruck mühsam unterdrückter Genervtheit wirkte. Sie trug kein Make-up. Ein schwacher Hauch Parfüm, das nach Rosenöl duftete, schien ihrem Nacken zu entströmen. Sie hätte als attraktiv durchgehen können, wenn da nicht der Schneidezahn gewesen wäre, dem eine Ecke fehlte.
    »In dieser Inkarnation«, sagte er schließlich, »bin ich angeblich Detektiv.«
    »Heißt das, Sie hatten schon andere Inkarnationen?«
    »Könnte man so sagen.«
    Sie trat von einem Bein aufs andere. »Was ist denn nun? Darf ich reinkommen oder nicht?«
    Martin trat beiseite und nickte Richtung Treppe. Die Frau zögerte, als würde sie abwägen, ob jemand, der über einem Chinarestaurant wohnte, überhaupt ein richtiger Detektiv sein könnte. Sie kam
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher