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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende
Autoren: Robert Littell
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Hollywoodfilmen zusammengeklaubt hatte. »Hoffentlich haben Sie als Schnüffler wenigstens eine gute Nase«, sagte sie und beäugte gleichzeitig seine nackten Füße. Sie trat an den Billardtisch, auf dem Vorderlader und Pulverhörner und ein karmesinrotes Kissen mit angesteckten Tapferkeitsorden der Unionsstaaten ausgebreitet waren, und versuchte krampfhaft, sich eine Geschichte auszudenken, mit der sie den Rückzug antreten konnte, ohne seine Gefühle zu verletzen. Da ihr nichts einfiel, fuhr sie mit den Fingern über das Messingzielfernrohr auf einem alten Gewehr. »Mein Vater sammelt Gewehre aus dem Großen Vaterländischen Krieg«, sagte sie.
    »Verstehe. Dann ist Ihr Vater also Russe. Hier nennen wir das den Zweiten Weltkrieg. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die Waffen bitte nicht anfassen würden.« Er fügte hinzu: »Das da ist eine englische Whitworth, das bevorzugte Scharfschützengewehr der Konföderierten. Die Papierpatronen in dem Humidor sind für die Whitworth. Im Bürgerkrieg waren Whitworthpatronen teuer, aber ein erfahrener Scharfschütze traf mit der Waffe alles, was er sehen konnte.«
    »Sind Sie so was wie ein Spezialist für den Bürgerkrieg?«, fragte sie.
    »Ich nicht, aber mein Alter Ego«, sagte er. »So, ich finde, wir haben genug geplaudert. Jetzt zur Sache, Lady. Sie müssen einen Namen haben.«
    Ihre linke Hand hob sich und bedeckte das Dreieck Haut auf ihrer Brust. »Ich bin Estelle Kastner«, verkündete sie. »Die wenigen guten Freunde, die ich habe, nennen mich Stella.«
    » Wer sind Sie? « , sagte Martin mit Nachdruck, suchte nach tieferen Identitätsschichten als bloß einem Namen.
    Die Frage verunsicherte sie. Offenbar hatte er mehr zu bieten als auf den ersten Blick ersichtlich, was die Chance erhöhte, dass er ihr doch helfen könnte. »Hören Sie, Martin Odum, so schnell geht das nicht. Wenn Sie rausfinden wollen, wer ich bin, müssen Sie schon etwas Zeit investieren.«
    Martin lehnte sich gegen das Geländer. »Was hoffen Sie denn, was ich für Sie tun kann?«
    »Ich hoffe, dass Sie den Mann meiner Schwester finden, der spurlos verschwunden ist.«
    »Warum gehen Sie nicht zur Polizei? Die haben eine Vermisstenabteilung.«
    »Weil sich die zuständige Polizei in Israel befindet. Und die haben Dringenderes zu tun, als nach vermissten Ehemännern zu suchen.«
    »Wenn Ihr Schwager in Israel verschwunden ist, warum suchen Sie ihn dann in Amerika?«
    »Wir glauben, Amerika gehört zu den Zielen, die er angesteuert haben könnte, als er Israel verlassen hat.«
    »Wir?«
    »Mein Vater, der Russe, der den Zweiten Weltkrieg als Großen Vaterländischen Krieg bezeichnet.«
    »Welche Ziele kämen noch in Frage?«
    »Mein Schwager hatte Geschäftsverbindungen nach Moskau und Usbekistan. Anscheinend hatte er auch mit irgendeinem Projekt in Prag zu tun. Und er benutzte Briefpapier mit einem Londoner Briefkopf.«
    »Fangen Sie am Anfang an«, sagte Martin.
    Stella Kastner hievte sich auf die Kante des Billardtisches, den Martin als Schreibtisch benutzte. »Die Geschichte ist folgende«, sagte sie, kreuzte die Füße und spielte mit dem untersten offenen Knopf ihres Hemdes. »Meine Halbschwester Elena, die Tochter meines Vaters aus erster Ehe, wurde religiös und trat der Lubawitsch-Sekte in Crown Heights bei. Das war kurz nach unserer Auswanderung nach Amerika 1988. Vor ein paar Jahren kam der Rabbi zu meinem Vater und schlug eine arrangierte Ehe mit einem russischen Lubawitscher vor, der nach Israel emigrieren wollte. Meinem Vater war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, dass Elena Brooklyn verließ, aber meine Schwester hatte immer davon geträumt, in Israel zu leben, und sie konnte ihn überreden, seine Einwilligung zu geben. Aus Gründen, die zu kompliziert sind, um sie näher zu erläutern, konnte mein Vater nicht frei reisen, und so habe ich Elena nach Israel begleitet. Gleich nach der Ankunft sind wir mit einem sharoot « – sie bemerkte Martins verwirrte Miene –, »das ist ein Sammeltaxi, mit dem sind wir zur jüdischen Siedlung Qiryat Arba gefahren, im Westjordanland bei Hebron. Dort wurde Elena, die sich in Ya’ara umbenannte, als sie israelischen Boden betrat, eineinviertel Stunden nach ihrer Landung von einem Rabbi getraut, der zehn Jahre zuvor aus Crown Heights eingewandert war.«
    »Erzählen Sie mir was über den Russen, den Ihre Schwester geheiratet hat, ohne ihn je gesehen zu haben.«
    »Sein Name ist Samat Ugor-Shilow. Er war weder groß noch klein und ziemlich dünn,
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