Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende
Autoren: Robert Littell
Vom Netzwerk:
vertan – in Hospitälern, Leichenschauhäusern, wir haben die amerikanische und die russische Botschaft eingeschaltet, die örtliche Polizei in Qiryat Arba, die Landespolizei in Tel Aviv. Wir haben sogar mittels einer Zeitungsanzeige eine Belohnung für Hinweise ausgesetzt.« Sie zuckte mit einer Schulter. »Leider haben wir nicht viel Erfahrung im Aufspüren von vermissten Personen.«
    »Sie sagten vorhin, Ihr Vater und Sie glauben, Samat könnte sich nach Amerika abgesetzt haben. Wie kommen Sie darauf?«
    »Wegen der Telefonanrufe. Ich habe mal zufällig einen Blick auf seine monatliche Telefonrechnung geworfen – die belief sich auf mehrere tausend Schekel, was in eine normale Haushaltskasse ein ganz schönes Loch reißen würde. Ich habe gesehen, dass etliche Anrufe an ein und dieselbe Nummer in Brooklyn gingen. Das ist mir aufgefallen wegen der Vorwahlziffern – die 1 für die USA und 718 für Brooklyn –, genau wie unsere Hausnummer auf der President Street.«
    »Sie haben sich die Telefonnummer nicht zufällig notiert?«
    Sie schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Ich bin nicht auf die Idee gekommen …«
    »Machen Sie sich keine Vorwürfe. Sie konnten ja auch nicht wissen, dass dieser Samat sich einfach aus dem Staub macht.« Er sah, wie sie rasch wegschaute. »Oder doch?«
    »Ich hab mir schon gedacht, dass die Ehe nicht von Dauer sein würde. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er sich für den Rest seines Lebens in Qiryat Arba vergräbt. Dafür war er zu weltbezogen, zu dynamisch, zu attraktiv –«
    »Sie fanden ihn attraktiv?«
    »Das hab ich nicht gesagt«, erwiderte sie abwehrend. »Ich könnte mir aber gut vorstellen, dass gewisse Frauen ihn anziehend finden.
    Aber nicht meine Schwester. Sie hatte sich in ihrem ganzen Leben noch keinem Mann nackt gezeigt. Soweit ich weiß, hatte sie auch noch nie einen nackten Mann gesehen. Selbst bei vollständig angezogenen Männern hat sie den Blick abgewandt. Samat dagegen hat einer Frau direkt in die Augen gesehen und sie förmlich ausgezogen. Er hat sich als frommer Jude ausgegeben, aber inzwischen glaube ich, das war eine Art Tarnung, um nach Israel zu kommen und in die Welt der Chassidim einzutauchen. Ich habe nie gesehen, dass er sich die tefillin angelegt hat, ich habe nie gesehen, dass er in die Synagoge ging, ich habe nie gesehen, dass er viermal am Tag gebetet hat, wie es fromme Juden tun. Und anders als meine Schwester hat er auch nicht die mesusa geküsst, wenn er das Haus betrat. Elena und Samat haben in verschiedenen Welten gelebt.«
    »Haben Sie Fotos von ihm?«
    »Als er verschwand, ist auch das Fotoalbum meiner Schwester verschwunden. Aber ich habe noch ein Foto, das ich auf ihrer Hochzeit gemacht habe. Ich habe es meinem Vater geschickt, der es über den Kamin gehängt hatte.« Sie ging zu ihrer Tasche und nahm ein braunes Kuvert heraus, aus dem sie ein Schwarzweißfoto hervorholte. Sie betrachtete es einen Augenblick mit dem Anflug eines gequälten Lächelns, wollte es dann Martin geben.
    Martin wich zurück und hielt die flachen Hände hoch. »Hat Samat das Foto mal angefasst?«
    Sie überlegte kurz. »Nein. Ich hab den Film in Jerusalem entwickeln lassen und das Foto von der Post gegenüber dem Fotoladen an meinen Vater geschickt. Samat weiß gar nicht, dass es existiert.«
    Martin nahm das Foto und hielt es ins Tageslicht. Die Braut, eine blasse und sichtlich übergewichtige junge Frau in einem weißen, hochgeschlossenen Satinkleid, und der Bräutigam, der ein gestärktes, weißes, bis zum Adamsapfel zugeknöpftes Hemd trug und ein schwarzes Jackett leger über die Schulter geworfen hatte, blickten gleichgültig in die Kamera. Martin stellte sich vor, wie Stella das russische Äquivalent zu »Cheese« rief, um den beiden ein Lächeln zu entlocken, aber offenbar ohne Erfolg. Von der Körpersprache her – Braut und Bräutigam standen nebeneinander, ohne sich zu berühren – wirkten sie wie Fremde auf einer Beerdigung, nicht wie zwei Frischvermählte. Samats Gesicht war fast ganz hinter einem buschigen schwarzen Vollbart verschwunden. Nur seine Augen, dunkel vor Zorn, waren zu sehen. Er war offensichtlich gereizt, aber weshalb? Hatte ihm die Zeremonie zu lange gedauert? Graute ihm vor der Aussicht auf ein Eheleben in dieser abgeschiedenen Siedlung im Westjordanland mit einer Lubawitscher Gattin?
    »Wie groß ist Ihre Schwester?«, fragte Martin.
    »Ein Meter dreiundsechzig. Wieso?«
    »Er ist etwas größer, also einsachtundsechzig,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher