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Die unheimliche Bibliothek

Die unheimliche Bibliothek

Titel: Die unheimliche Bibliothek
Autoren: Haruki Murakami
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25
    »Und du!« Er zeigte auf mich. »Du wirst Hundefutter. Ich werfe dich lebendig dem Köter zum Fraß vor. Schreiend wirst du den Tod finden. Aber dein Gehirn ist für mich reserviert. Weil du die Bücher nicht anständig gelesen hast, ist es sicher noch nicht sehr nahrhaft, aber was soll’s. Ich werde es bis zum letzten Tropfen aussaugen.«
    Der Alte bleckte die Zähne und lachte. Die grünen Augen des Hundes funkelten gierig.
    Doch in dem Moment sah ich, dass mein Star im Maul des Hundes immer größer wurde. Bald war er so groß wie ein Huhn und drückte wie ein Wagenheber die Kiefer des Hundes auseinander. Der Hund versuchte zu bellen, aber es war schon zu spät. Seine Kiefer barsten, ich hörte die Knochen splittern. Panisch drosch der Alte mit seiner Rute auf den Vogel ein. Aber der Star blähte sich immer mehr auf, bis er so groß war wie ein Stier und den Alten an die Wand quetschte. Mit seinem Geflatter füllte der Star den kleinen Raum nun völlig aus.
    So, jetzt kannst du nach Hause gehen, sagte der Star mit der Stimme des Mädchens.
    »Und was machst du?«, fragte ich den Star, der das Mädchen war.
    Um mich brauchst du dich nicht zu kümmern. Ich komme nach. Beeilt euch. Sonst seid ihr für immer verloren, sagte das Mädchen, das der Star war.
    Also nahm ich den Schafsmann bei der Hand und floh aus dem Zimmer, ohne mich auch nur einmal umzudrehen.
    So früh am Morgen war noch kein Mensch in der Bücherei. Wir durchquerten die Eingangshalle, öffneten ein Fenster im Lesesaal und kletterten ins Freie. Atemlos rannten wir in den Park und ließen uns rücklings auf den Rasen fallen. Wir schlossen die Augen und schnappten nach Luft.
    Als ich nach langer Zeit meine Augen wieder öffnete, war der Schafsmann nicht mehr da. Ich stand auf und schaute mich um. Ich rief laut nach ihm. Aber es kam keine Antwort. Die ersten Strahlen der Morgensonne beleuchteten die Blätter der Bäume. Der Schafsmann war, ohne etwas zu sagen, einfach verschwunden. Wie Morgentau verdunstet.

26
    Als ich nach Hause kam, wartete meine Mutter mit einem warmen Frühstück auf mich. Sie fragte mich nichts. Sie schimpfte weder, weil ich nach der Schule nicht heimgekommen war, noch weil ich drei Nächte fort gewesen war und auch nicht wegen der Schuhe. Das war sehr ungewöhnlich für meine Mutter.
    Mein Star war fort. Nur sein leerer Käfig stand noch da. Dennoch fragte ich meine Mutter nicht nach ihm. Es war besser, nicht daran zu rühren. Das spürte ich. Von der Seite betrachtet wirkte meine Mutter ein wenig düsterer als sonst, aber das bildete ich mir vielleicht nur ein.
    Seither war ich kein einziges Mal mehr in der Stadtbibliothek. Vielleicht hätte ich einen Verantwortlichen aufsuchen und ihm erzählen sollen, was mir dort zugestoßen war. Bescheid sagen, dass es im Keller der Bibliothek ein Verlies gab. Sonst würde eines Tages vielleicht einem anderen Kind das Gleiche passieren wie mir. Doch ich bekam schon Krämpfe in den Beinen, wenn ich das abendliche Büchereigebäude nur sah.
    Hin und wieder dachte ich an meine neuen Lederschuhe, die ich im Keller der Bibliothek zurückgelassen hatte. Und an den Schafsmann und das schöne Mädchen, das nicht sprechen konnte. War all das wirklich geschehen? Ehrlich gesagt, ich wusste es nicht. Alles, was ich wusste, war, dass ich meine Schuhe und meinen Star verloren hatte.
    Letzten Dienstag ist meine Mutter gestorben. Sie starb an einer unbekannten Krankheit. Eines Morgens ging sie so still, als hätte sie sich einfach aufgelöst. Es gab eine bescheidene Totenfeier, und dann war ich allein. Keine Mutter, kein Star, kein Schafsmann, kein Mädchen.
    Es ist zwei Uhr morgens und ganz dunkel. Ich bin allein und denke an das Verlies im Keller der Bücherei. Wenn ich allein bin, ist die Dunkelheit besonders tief. Wie in einer Neumondnacht.
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