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Die Insel der Mandarine

Die Insel der Mandarine

Titel: Die Insel der Mandarine
Autoren: Barry Hughart
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Meister Li.
    »Sieh dir das an, Ochse«,
sagte er leise.
    Durch den sich lichtenden
Nebel vor uns glitten wir sachte an einen langen, düsteren Landungssteg, wo wir
mit einem leichten Ruck zum Stehen kamen und wo die Geister uns erwarteten.
    Die Toten waren in
festlicher Stimmung, als sie an Bord kamen. Sie schienen keinen Platz
einzunehmen, gleichgültig, wie viele über die Laufplanke kamen, die der
Gleitende und Ziehende und der Springende und Vorwärtsdrängende auslegten. Ich
begriff, daß meine Aufgabe beendet war, ebenso wie Meister Lis, und daß von
jetzt an die erfahrenere Mannschaft übernehmen würde. Schließlieh hatte sich
der Landungssteg geleert. Die Ersten Ruderer stießen das Boot vom Land ab, und
es glitt wieder in den Nebel davon. Ich stand neben Meister Li im Bug und
blickte nach hinten zum Heck, an meinem Steuerruder vorbei, wo Geister sich
weit über das Wasser hinauslehnten, winkten und
riefen. Mit fragendem Blick wandte ich mich zu Meister Li um.
    »Die Toten versuchen,
Lungen-Drachen anzulocken, damit sie dem Boot folgen und Regen bringen«,
erklärte er nüchtern. »Ochse, das ist ein Pakt, der vor langer Zeit geschlossen
wurde. Zum Fest der Gräber bringen wir den Toten Sommerkleidung, Nahrung und Wein,
säubern die Gräber und machen es ihnen gemütlich. Zum Fest der Hungrigen
Geister geben wir den Geistern zu essen, die nicht so glücklich sind, eine
Familie zu haben, die für sie sorgt, und wir beten für ihre Seelen. Zum Fest
Aller Seelen bringen wir den Toten Papiergeld, damit sie ihre Winterkleider in
den Pfandhäusern im Land der Schatten auslösen können, und wir bringen ihnen,
wenn nötig, neue Kleider und Vorräte, die sie vielleicht für den Winter
brauchen. Zum Dank bringen uns die Geister Regen, und helfen uns dabei,
Krankheiten und Siechtum zu bekämpfen, die keine Macht mehr über sie haben .« Wir hatten die Nebelbank passiert und glitten nun auf den
Nördlichen See hinaus. Die Angst hatte die Menschen von den Ufern ferngehalten,
aber die alte Frau mit Namen Niao-t'ung, »Nachttopf«, und der alte Mann mit
Namen Yeh-lai Hsiang, »Duft-der-bei-Nacht-Kommt«, womit der Geruch gemeint war,
der sich ausbreitete, wenn er seine Sandalen auszog, ließen sich nicht um eine
Zeremonie bringen, die sie schon von Kindesbeinen an begangen hatten, und so
humpelten sie unter Qualen ans Wasser. Ihre Haltung drückte höchstes Erstaunen
aus, als sie die Augen mit den Händen beschatteten und zu uns hinüber und durch
uns hindurch blickten. Die Behörden hatten verkündet, daß in diesem Jahr kein
Bootsrennen stattfinden würde, aber ihr Gefühl hatte den beiden Greisen das
Gegenteil gesagt, und so nickten sie sich unbeirrt zu und setzten ihre kleinen,
papierenen Sung wen-Schiffchen ins Wasser. In den Schiffchen steckten
die Krankheiten, die ihre Familien in den nächsten sechs Monaten befallen
konnten, und Duft-der-bei-Nacht-Kommt warf noch eine Handvoll winziger, aus Ton
geformter Hündchen hinterher. Die Hunde würden die Krankheiten, die sich aus
den Papierschiffchen hinausstahlen, beißen und daran hindern, ans Ufer
zurückzuschwimmen.
    Die Papierschiffchen wurden
vom Sog der Rennboote mitgerissen, und als die Geister riefen und ihnen
zuwinkten, segelten die kleinen Dinger schaukelnd hinaus und drehten sich
gehorsam in die schwappende Wellenspur, die unser Boot durchs Wasser zog. Das
Boot vibrierte wie eine Stimmgabel. Am Ufer bebten die Häuser, und lockere
Dachziegel fielen herunter. Der große Yu stimmte die letzten Noten an, um auf
die Sekunde genau den Augenblick der Sonnenwende zu verkünden. Auf der
Hafenseite stieg eine feine, anmutige Wasserfontäne auf, höher und höher, bis
sie sich zu Drachenflügeln ausbreitete und eine Wolke bildete. Es folgte ein
zweiter Drachen, dann ein dritter, und sie wandten sich gegen die schmutzigen
Finger des Gelben Windes und trieben sie in die Mongolei zurück. Wolken dehnten
sich gerade rechtzeitig über den Himmel aus, um die Strahlen der untergehenden
Sonne aufzufangen, Regen begann zu fallen, und eine kühle, frische Brise
durchwehte die Stadt. Menschen strömten aus ihren Häusern und liefen mit den
Papierschiffchen ihrer Familien ans Wasser. »Ochse...«
    Ich drehte mich um und
schrie auf, als ich zwei Geister aus der Schar der Toten auf mich zukommen sah.
Meine Mutter umarmte mich, und mein Vater lächelte und knetete verlegen seine
Finger. Hunderte von Geistern begrüßten Meister Li.
Eine riesige Flotte von Papierbooten, die auf den
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