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Die Herrin der Kathedrale

Die Herrin der Kathedrale

Titel: Die Herrin der Kathedrale
Autoren: Claudia Beinert , Nadja
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einer großen Buche vergraben werden. In der Baumwurzel liegen die Ursprünge aller Dinge und allen Seins. Gräbt man das Holzkästchen nach frühestens einem weiteren Winter aus, und sind die Blätter nicht abgefallen, so deutet dies auf ein glückliches Leben auf Gottes Erde hin.« Uta hatte die Bilder von damals deutlich vor Augen, als sie sich vom Fenster abwandte und in Gedanken versunken an dem Knappen vorbeitrat. Erna, Volkard und sie waren damals unter der Aufsicht des älteren Bruders, der das Ganze als Unsinn abgetan hatte, den Anweisungen der Heilkundigen gefolgt. Drei nebeneinander stehende Buchen hatten sie ausgewählt und mit der Schaufel ein tiefes Loch gegraben, um ihr Kästchen jeweils zwischen die Baumwurzeln zu setzen. Anschließend hatten sie mit dem Messer noch ein Erkennungszeichen in die Rinde geritzt.
    »Zwei Winter sind seitdem vergangen«, sagte der Knappe.
    »Wenn Ihr wünscht, reiten wir gemeinsam zur Schneerose.« Die Aussicht, die Zukunft zu erfahren, hob Utas Laune. Sie nickte, zögerte aber mit dem nächsten Herzschlag. Vor ihrem inneren Auge sah sie die blutleeren Lippen des Vaters, der einen solchen Ausritt wahrscheinlich nicht erlauben würde. Aber der Knappe vor ihr war älter geworden, sein Haar leuchtete außergewöhnlich kraftvoll. Zur Not würde er sie vor wilden Tieren beschützen können.
    »Die Jagdgesellschaft bricht jeden Moment nach Norden auf.« Der Knappe schien den Grund für Utas Zögern erraten zu haben. »Unsere Schneerosen haben wir außerdem im Südforst vergraben. Wir werden aus ihm zurück sein …«
    »… noch bevor die Jagdgesellschaft dem erstbesten Eber hinterherjagt«, beendete Uta seinen Satz. »Ich werde Euch auf dem kurzen Ausritt begleiten Volkard, und zudem wird Erna mit uns kommen. Sie wird sicherlich auch einen Blick auf ihre Schneerose werfen wollen«, wandte sich Uta im Gehen noch einmal um. Neben der Mutter war Erna der einzige Mensch auf der Burg, mit dem sie ein solch kostbares Geheimnis wie die Offenbarung der Zukunft zu teilen wagte. Sie eilte in den Stall, um Linhart um die Pferde für den Ausritt zu bitten.
    Dabei klangen ihr erneut Esikos Schimpfworte in den Ohren: Rote Haare, Sommersprossen sind des Teufels Artgenossen!
    Im Wald herrschte eine himmlische Ruhe.
    Mit einem »Brrrr« brachte Volkard sein Ross zum Stehen, als sie den Rand des Südforstes erreichten. »Hinter der Lichtung, vor der sich die zwei schmalen Wege gabeln, müssten unsere Bäume stehen.« Er zeigte mit dem ausgestreckten Arm geradeaus. »Dort, seht Ihr?«
    Utas Blick folgte der Richtung seines Arms, sie vermochte jedoch nichts zu erkennen.
    »Lasst uns direkt auf die Lichtung reiten und die Bäume dort untersuchen«, schlug Volkard vor und trabte voraus. »Ich spüre, dass sich unsere Schneerosen dort befinden.«
    Uta zögerte. Sie hatte Erna weder im Gesindehaus noch in der Küche finden können und schließlich die Burg von Neugier getrieben zusammen mit dem Knappen verlassen. Von der Ruhe des friedlichen Ortes angezogen, wischte sie ihre Bedenken beiseite und folgte ihm zur Lichtung.
    Wildwuchs machte den Erdboden zwischen den Bäumen, die die Lichtung säumten, schwer zugänglich, so dass sie absitzen mussten. Uta band ihr Pferd an einer knospenlosen Buche fest und folgte dem Knappen durch dichtstehenden Farn. Sie trat vor einen besonders knorrigen Baum, an dessen Stamm Efeu emporrankte, der sich nur mühsam entfernen ließ. »Ich habe den Kreis gefunden, den Erna als Erkennungszeichen eingeritzt hat«, vermeldete Uta einen Augenblick später freudig.
    Ihr Begleiter war inzwischen an den Nachbarbaum getreten und suchte dort nach einer Markierung. »Hier ist mein Kennzeichen!«, rief er. »Damit muss der Baum zu meiner Rechten Euer Zukunftsbaum sein.«
    Uta kämpfte sich zum rechten der drei Baumriesen durch und trat um ihn herum. »Jetzt muss ich nur noch mein Zeichen finden.« Sie beugte sich zum Wurzelansatz hinab und tastete die Rinde des von Buschwindröschen umwachsenen Stammes ab. »Hier ist die Kerbung!« Erfreut richtete sie sich auf und flüsterte: »Lieber Herrgott, weise mir den Weg in eine gefällige Zukunft.« Ihr Blick glitt bedächtig den Stamm entlang bis zur Krone hinauf. »Volkard, wie gut, dass Ihr die Lichtung wiedererkannt habt!«
    Als sie keine Antwort erhielt, schaute sie sich um und bemerkte, dass der Knappe verschwunden war. Dann fuhr sie zusammen. Zwei Hände hatten plötzlich von hinten nach ihren Handgelenken gegriffen. »Räuber!«
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