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Die Häuser der anderen

Die Häuser der anderen

Titel: Die Häuser der anderen
Autoren: Silke Scheuermann
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ihr – zu ihrem neuen Charakter gehörte, dass sie eine Frau war, bei der Männer sich wohlfühlten .
    »Macht doch nichts«, sagte sie herzlich, »schließlich habe ich mich eingeladen.«
    Sie ging zum Fenster und sah in den Hinterhof, was auch nicht viel besser war.
    »Hübsch«, wiederholte sie dennoch.
    »Ja. Naja. Ich versuche an die relativ niedrige Miete zu denken und nicht an den Grund dafür.«
    »Wie viel, hast du gesagt, zahlst du?«, fragte Anne.
    Aber John hatte sich umgedreht und ging in die Küchennische. »Machst du das öfters: zu einem wildfremden Jungen mit nach Hause gehen?«, fragte er und holte zwei Dosen aus dem Kühlschrank.
    Anne sah ihn entrüstet an: »Nein! Ich mache es nur, wenn meine beste Freundin gerade benachrichtigt wurde, dass sie Krebs hat und ich total durcheinander bin, weil mich meine – äh, andere beste Freundin nicht versteht.«
    »Ach so. Dann habe ich ja Glück gehabt.«
    Er hielt ihr ein Bier hin: »Was anderes habe ich nicht. Wenn du was anderes willst, müsste ich schnell noch mal zu dem Deli runter.«
    »Bier ist gut«, sagte Anne und dann, unvermittelt: »Ich habe ein schlechtes Gewissen meiner Freundin gegenüber. Obwohl ich erst seit heute weiß, dass sie krank ist, habe ich jetzt tatsächlich so etwas wie einen schönen Abend.«
    Das Misstrauen in seinen Augen wich; er lächelte.
    »Das habe ich auch …« Er machte eine Pause. »Aber ich glaube nicht, dass du dich deswegen schlecht fühlen solltest. Weißt du, als Medizinstudent bin ich sehr viel mit Sterblichkeit konfrontiert. Aber eine Regel gilt dennoch: Das Leben geht weiter.«
    Sie wollte schon spöttisch antworten – sehr tiefsinnig war das nun nicht –, aber sie schwieg und schlenderte zum Fenster auf der anderen Seite des Zimmers, das hinaus auf die Sullivan Street ging. Wie viele andere ausgesprochen hässliche Teile der Stadt nahm sich die Sullivan Street bei Schnee auf einmal vorteilhaft aus.
    Das Leben geht weiter, wiederholte Anne prüfend für sich. Natürlich, es war ein bescheuerter Spruch. Aber was konnte man dagegen einwenden? Es stimmte schließlich: Die Wahrheit, die in dieser Banalität lag, traf einen wie ein Schlag, hinterrücks und gemein. So war es, das Leben. Ein Beispiel nach dem anderen, das solche Phrasen illustrierte, bis eine Kette entstanden war, und unentwegt folgten noch weitere Sprüche, ja, eigentlich sogar bis zum Ende: »Das letzte Hemd hat keine Taschen.« »Über Tote soll man nicht schlecht reden.« Und so weiter und so weiter. Es waren Generationen von Leben mit einzelnen schweren Krankheiten, Geburten, Glücks- und Unglücksfällen, die diese Platitüden geformt hatten. Außerdem war John angehender Mediziner, also musste er gegenüber dem omnipräsenten Sterben frühzeitig eine möglichst emotionslose, sachliche Haltung einnehmen, um sich zu schützen.
    »Jetzt sei nicht traurig«, sagte er. Immer noch blickten seine hellen Augen ohne Argwohn, und er sah Mark weniger ähnlich dadurch. Sie dachte: Das wird mein erster One-Night-Stand. In New York.
    Im Zimmer war es dunkel, aber er machte das Licht nicht an. Sie standen gemeinsam am Fenster und sahen auf die Straße hinaus. Obwohl es gegen Mitternacht und so kalt war, liefen unablässig Paare, Gruppen und einzelne Fußgänger vorbei, viele mit Tüten bepackt. Es war angenehm, so zu stehen und zu schauen; man musste gar nicht reden. Wieder gefiel sie sich in der Vorstellung, mit einem Geist zusammen zu sein. Mit dem Geist von Mark Taunstätt, der irgendwo in einer psychiatrischen Anstalt vegetierte – sie meinte gehört zu haben, es wäre Wiesloch-Walldorf. War es krank von ihr, sich das auszumalen? Auf der Straße tanzte schon wieder eine Plastiktüte in der Luft.
    Sie überlegte gerade, ob sie John das Gedicht rezitieren sollte, als etwas Plüschiges ihren Handrücken berührte und sie aufschrak.
    »Eine Katze!«
    Es war eine gleichmäßig graue Kartäuserin mit einem ziemlich kleinen Kopf.
    »Darf ich vorstellen? Nelly, das ist Anne. Anne: Nelly.«
    Anne streichelte das kurze, flaumige Fell. Nelly drehte sich um und bewegte sich elegant über das Fensterbrett und auf die Schreibtischplatte.
    »Sie ist sehr eigenständig«, sagte John. »Ich habe sie mit der Wohnung übernommen.«
    »So ein Tier ist unglaublich beruhigend. Am Kuhlmühlgraben, bei meiner Tante, gibt es einen Hund. Benno heißt er. Ich hätte auch gerne einen gehabt, aber meine Mutter …«
    Er begann, sie zu küssen.
    Vielleicht eine halbe,
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