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Die Häuser der anderen

Die Häuser der anderen

Titel: Die Häuser der anderen
Autoren: Silke Scheuermann
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Menschenkennerin gehalten hatte und nun feststellen musste, dass ihr Studienobjekt sich ganz und gar nicht erwartungsgemäß verhielt, sondern vielmehr lebendigen Vorwurf verkörperte.
    Da staunst du, was?, dachte Anne. Zwei Drittel ihres Wesens fühlten sich im Recht, ein Drittel jedoch beschwor sie, jetzt keinen Fehler zu begehen.
    »Vielleicht siehst du das gerade etwas verzerrt«, sagte Rebecca kühl und stand auf. In diesem Moment kam die Rothaarige wieder und stellte die Getränke vor ihnen ab: »Kann ich dann auch gleich abkassieren? Meine Schicht ist zu Ende«, bat sie, und Rebecca und Anne sahen sich unversehens mit ihrer Chance konfrontiert, die Unstimmigkeit zu bereinigen.
    »Ich lade dich ein«, sagte Anne rasch.
    »Dank dir. Pass auf, ich rauche später eine. Es war reine Nervosität, dass ich die Schachtel jetzt schon herausgelegt habe.«
    »Ist doch völlig in Ordnung; ich muss mich entschuldigen, ich bin auch nervös!«
    »Ja, aber du hast auch allen Grund dazu!«
    Sie lächelten sich an, so ungezwungen es irgend ging.
    »Jedenfalls«, sprach Anne weiter, »mit den Jahren hat sich meine Sympathie total verlagert. Und dann gab es auch eine Pause. Zwei Sommer lang konnte ich nicht hin, weil Luisa und Christopher aus irgendwelchen Gründen auch zur Hauptferienzeit weg sind, normalerweise waren sie da nicht so drauf angewiesen, aber egal. Jedenfalls, dann war ich auf einmal vierzehn und hatte Probleme mit der Haut und mit dem Selbstwertgefühl, und dann war es eben Luisa, die mich zum Dermatologen geschleppt und ins Yoga gebracht hat …«
    »Yoga kannst du echt gut …«
    »Danke. Ja, und es war eben auch Luisa, die sich meine Männergeschichten angehört hat, zumindest das, was ich damals eben für Männergeschichten hielt …«
    Rebecca lächelte vorsichtig, und das war gut so, denn Ironie war wirklich nur kurz aufgeflackert in Annes bitterernster Rede. Die Freundin sprach bereits mit theatralisch hoher Stimme weiter: »… und sie hat mir abgelegte Klamotten geschenkt und die Haare gemacht – ach, und vor allem: Tintoretto, Rubens. Die ganze Kunstgeschichte. Die alten Meister. Ich habe mich von ihrer Begeisterung so anstecken lassen! Aber das Wichtigste war einfach: Sie war immer da. Immer da für mich.«
    Jetzt weinte Anne, und Rebecca suchte nach einem Taschentuch, fand aber keins. Schniefend presste Anne ihre Nase in eine Serviette.
    »Mensch, Mist!«, heulte sie gedämpft.
    Rebecca griff nach ihrer Hand.
    Drei junge Männer betraten mit erhitzten Gesichtern und verschneiten Mützen die Bar, Studenten augenscheinlich, die lachend und lärmend alle anderen an ihrem gut gelaunten Start ins Wochenende teilhaben ließen. Einer hatte direkt Blickkontakt mit Anne, und sie fühlte sich vage an jemanden erinnert, kam aber nicht darauf, an wen. Anne glaubte, einen Funken Interesse – oder Neid? – in Rebeccas Augen aufblitzen zu sehen. Sie wusste durchaus, dass sie an diesem Tag äußerst empfindlich war und vielleicht alles überinterpretierte. Vielleicht aber auch nicht.
    »Es tut mir so leid, dass ich dir deinen Abend ruiniere!«
    »Sch-sch«, beschwichtigte Rebecca sie. »Sch-sch.«
    Die Freundin hatte anscheinend das Rauchen verschoben, dafür bestellte sie noch eine Runde. Anne war das recht. Gut möglich, dass sie sich heute Abend ein bisschen betrinken musste, weil das Leben doch wirklich kompliziert war für eine Zwanzigjährige, bei deren Lieblingstante gerade Brustkrebs diagnostiziert worden war. Anne dachte an Luisa. Und an Christopher. Sie war ein wenig verliebt in ihn gewesen – diese dumme, unnütze Vernarrtheit, die einen nur gehemmt machte, aber gleichzeitig auch, und das war das Schöne, den Alltag in ein anderes, helleres Licht rückte. Luisa hatte ihr ein wenig von ihm erzählt, natürlich nichts, was er nicht auch hätte hören dürfen. Dass er sich für Architektur interessierte, zum Beispiel. Im Nachhinein fand Anne, dass auch Luisas und Christophers Liebe etwas Architektonisches hatte: Christopher war der eigentliche Baumeister, zuständig für die soliden Fundamente, für Wände und Dach, die Schutz boten vor jeder Jahreszeit. Gewissenhaft, klug und gründlich, wie er war, hatte er Sorgfalt walten lassen. Luisa war eher für die netten Verzierungen da gewesen, aber genau die machten das Ganze ja auch so besonders. Wenn die beiden sich gestritten hatten – sie waren immer bemüht gewesen, das zu verheimlichen, aber Anne hatte feine Antennen –, dann lag es immer
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