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Die Häuser der anderen

Die Häuser der anderen

Titel: Die Häuser der anderen
Autoren: Silke Scheuermann
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vielleicht eine ganze Stunde später lag Anne auf dem zerwühlten Bett und war von der übermäßigen Lust verblüfft, die sie empfunden hatte – zum ersten Mal überhaupt hatte sie »dabei« an gar nichts gedacht. John, erschöpft und begeistert, war eingeschlafen; er atmete leise.
    Lust, dachte Anne – dasselbe Wort auf Englisch und Deutsch.
    Sie rührte sich nicht, sondern beobachtete die Katze auf dem Fensterbrett. Ein- oder zweimal dämmerte sie kurz weg, dann kamen wieder Bruchstücke aus der Vergangenheit hochgeschwemmt. Hier lag sie, neben John, und warum? Weil er sie an jemanden erinnerte – an einen Mörder. Nichts weniger als das. Sie hatte sich damals, so jung sie auch gewesen war, um mehr als alles in der Welt gewünscht, dass Mark Taunstätt mit ihr schlafen würde, aber der hatte sich geweigert – sie sei minderjährig, sagte er, als gälte das für ihn selbst nicht auch. Anne wollte es nicht in den Kopf, dass er, der Hasch und vermutlich auch Kokain nahm und sich auch ansonsten herzlich wenig um das Gesetz scherte, ausgerechnet in diesem Fall zum Paragrafenreiter wurde. Sie hatte in der Zeit danach immerzu an das Unglück gedacht, an die Demütigungen, wie er sie seinen Freunden vorführte und dann sitzen ließ; sie hatte ihr Begehren vergessen. Jetzt, in Amerika, hatte es sie eingeholt. Wir vergessen unsere Träume – aber unsere Träume vergessen uns anscheinend nicht. War es das jetzt, war das Leben als Erwachsene so – eine Überlagerung von Personen, die man gekannt hatte, durch neue, die an sie erinnerten: Lebte man gleichzeitig mit den Geistern der Vergangenheit und mit dem Neuen? Waren einmal eingeschlagene Wege daher immer von Bedeutung?
    Sie stand leise auf und kramte, nackt wie sie war, in ihrer Tasche nach ihrem Make-up-Beutel und sah nach, ob sie eine Hautcreme dabei hatte. Dabei fiel ihr der Blake-Band in die Hände, den hatte sie ganz vergessen. Mist. Sie setzte sich ans Fensterbrett und blätterte. Was für Bilder, was für ein Menschenbild. Gott erschafft das Universum . Umarmung einer Blume . Die Ehebrecherin . Immer diese Einzelgestalten, mächtig, kämpferisch, wie wilde Rächer, oder Engel. Die vielen Gelb-, Orange- und Rottöne – wie loderndes Feuer. War sie, Anne, vielleicht auch ein Ungeheuer, wie Blake? Sie erschauderte und klappte das Buch zu. Sie würde Rebecca den Band gleich am Morgen bringen; sie wollte nicht schuld sein, wenn Rebecca ihre Arbeit nicht rechtzeitig fertig bekam. Anne kroch wieder ins Bett; sie würde hier übernachten. Das war ein so seltsamer Abend gewesen, dass es darauf auch nicht mehr ankam. Wir vergessen unsere Träume, aber unsere Träume erinnern sich an uns, länger als wir es je geahnt hätten. Sie war glücklich. Sie saß bei einem fremden Mann am Fenster und war glücklich. In New York. Sie dachte an Tante Luisa. Sie würde sie gleich morgen anrufen und fragen, wie es ihr ging. Die sehr eigenständige Katze sprang vom Fensterbrett, rollte sich zu ihren Füßen zusammen und schlief ein. Es hat sich immer alles um die Hunde gedreht, am Kuhlmühlgraben, war Annes letzter Gedanke, bevor sie ebenfalls in den Schlaf glitt, aber vielleicht ist jetzt die Zeit der Katzen angebrochen.

Impressum
    Das ist die E-Book-Ausgabe des im Jahr 2012 im Verlag Schöffling & Co. erschienenen Buchs.

2012
© Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung GmbH,
Frankfurt am Main 2012
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagfoto: © René Magritte,
L’éloge de la Dialectique, 1937
© vg Bild-Kunst, Bonn 2012
E-Book-Konvertierung: Fotosatz Amann, Aichstetten
ISBN 978-3-89561-991-5

    www.schoeffling.de

Weitere E-Books von Schöffling & Co. finden Sie hier:
http://www.schoeffling.de/buecher/ebooks

Kurzbeschreibung
    Christopher und Luisa haben geheiratet und sich im Leben eingerichtet: Er ist angehender Professor für Biologie, sie erfolgreiche Kunsthistorikerin. Die Altbauwohnung ihrer Studentenzeit haben sie gegen ein Haus am Stadtrand getauscht, als sichtbares Zeichen ihrer Ambitionen. Hier in der Straße am Kuhlmühlgraben muss sich ihre Ehe bewähren, hier messen sie ihre Träume am Erreichten. Doch nicht alles lässt sich mit Willenskraft und Selbstinszenierung herbeiführen, das müssen die beiden ebenso erfahren wie die anderen Bewohner des Viertels.
    In kunstvollen Szenen, mit Abstechern nach Venedig und New York, erzählt Silke Scheuermann in Die Häuser der anderen von zerbrechlichen Wünschen, Ängsten und Hoffnungen. Unsentimental und einfühlsam schildert
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