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Die Häuser der anderen

Die Häuser der anderen

Titel: Die Häuser der anderen
Autoren: Silke Scheuermann
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oder der Mannschaft oder mir selbst die Schuld, sondern der ganzen Stadt. Ich legte mir die Theorie zurecht, dass es im Prinzip unmöglich wäre, in Boston zu leben, etwa so, wie es unmöglich ist, auf dem Mars zu leben. Weil da, weißt du, keine für Menschen geeignete Atmosphäre existiert, und daher braucht es unendlichen Aufwand, auch nur einen Schritt zu tun. Ganz viel Energie, als stecktest du immer in einem komplizierten Raumanzug … Sag mal, verstehst du mich? Findest du das albern? Klinge ich betrunken?«
    »Nein, nein. Ich höre dir zu«, sagte sie, völlig gebannt von seiner Persönlichkeit. Er denkt genau wie ich! , sagte sie sich. Es war unerhört.
    »Jedenfalls – ich war dann zu erschöpft. Ich sagte mir, in New York, da herrscht ein völlig anderer Wind.«
    »Und – herrscht hier ein anderer Wind?«, fragte sie, seine Ausdrucksweise aufnehmend und ohne auf den logischen Bruch einzugehen – denn wieso sollte es eigentlich gerade in New York weniger anstrengend sein? Sie wollte ihn unbedingt begreifen. Sie ging immer langsamer; sie konnte schon ihr Apartmentgebäude erkennen.
    »Ja und nein«, sagte er, und sie lachten beide.
    »Weißt du was?«, sagte sie aus einer plötzlichen Eingebung heraus, »ich würde gerne deine Wohnung sehen.«
    Er schaute sie überrascht an, aber das störte sie nicht, im Gegenteil. Wieder sagte die eindringliche Stimme in ihr: Er wird dich für eine erstaunliche Frau halten, und ihr wurde bewusst, dass sie sich genauso benahm, wie sie es Mark Taunstätt gegenüber getan hätte, wenn, ja, wenn alles anders gekommen wäre. Wenn er seinen ganzen Sexappeal, seine Verrücktheit und Intelligenz, seine Wut in eine andere Bahn hätte lenken können. Denn das hatte er gehabt, auch ein Krimineller konnte das haben. Sie hatte noch so oft an Mark gedacht – sein Anwalt hatte auf Unzurechnungsfähigkeit plädiert, er war von der Haft freigesprochen und in eine Nervenheilanstalt gebracht worden –, ja, sie hatte sogar ernsthaft überlegt, ihn zu besuchen. Und jetzt war sie also mit einem jungen Mann, der ihm verblüffend ähnlich sah, in New York unterwegs. Ihr gefiel die Vorstellung, mit Marks Geist zusammenzusein; sie war beunruhigend, kitzelnd, bedrohlich – es machte sie an. Ohne auch nur ein Wort zu sagen, bog John die nächste Straße links ab. Anne betrachtete die Spuren im Schnee, die vielen, vielen Menschen, die vor ihr schon diese Straße entlanggegangen waren, alle Leben, alle Schicksale. Sie dachte: Alles weiß und all die Farben im Verborgenen.
    »Du wohnst über einem Deli?«, fragte sie dann aufgekratzt, als er anhielt. »Das ist aber praktisch!«
    Sie waren vor einem roten Sandsteinhaus an der Ecke zur Sullivan Street stehen geblieben. Er brummte etwas und kramte in den Manteltaschen nach dem Schlüssel.
    Das Haus lag nach Norden, und John bewohnte einen Teil des zweiten Stockwerks; seine Fenster blickten an der einen Seite auf die Sullivan Street und an der anderen auf Hinterhöfe sowie die Rückwände anderer Wohn- und Geschäftshäuser. Sie war hier schon öfters bei Tag vorbeigekommen, wenn sie Richtung Chinatown ging, um etwas zu essen oder eine billige Maniküre machen zu lassen.
    Als sie die Stiege hochging, war sie nicht mehr aufgeregt. Es war vollkommen gleichgültig, ob sie ihm wirklich gefiel, oder nur ein wenig oder fast gar nicht. Ob er lieber mit Rebecca … Aber nein, so wollte sie nicht denken, das war die alte, ängstliche Anne, die heute frei hatte.
    Seine Wohnung war vielleicht sogar noch ein wenig winziger als ihre, zumindest war sie weit weniger charmant. Es war ein verschattetes Rechteck, höhlenartig, alles andere als einladend. Anne ließ Fremde nur ungern in ihre kleine Wohnung, hatte sich oft über den Charakter von Leuten gewundert, die anderen so schnell Zutritt zu ihrem Zuhause gewährten. Anne registrierte die große, breite Matratze, den Stapel Bücher daneben, den kleinen Fernseher, die dvd s. Zwei Jogginghosen lagen unordentlich auf dem Boden.
    »Hübsch«, sagte sie.
    »Ja«, brüstete sich John. »Es war auch nicht gerade leicht, sie zu bekommen. Die meisten meiner Freunde wohnen im Studentenwohnheim.«
    »Oder in Brooklyn«, lachte Anne. Sie schaute immer noch die Jogginghosen an. Was auch sonst? Es gab keine Pflanzen, Bilder oder Fotos.
    »Ich hab leider nicht aufgeräumt«, sagte John; plötzlich war ihm die Unordnung anscheinend doch ein wenig peinlich. Anne fand das schade, sie wollte, dass er sich wohlfühlte mit
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