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Die Häuser der anderen

Die Häuser der anderen

Titel: Die Häuser der anderen
Autoren: Silke Scheuermann
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daran, dass einer seinen Zuständigkeitsbereich überschritt. Anne erinnerte sich daran, wie Onkel Christopher einmal seltene Gräser gekauft und an die Fenster ihres Bibliothekszimmers gestellt hatte; Luisa war nicht begeistert gewesen, es war schließlich ihrer beider Bibliothek, sollte er die Pflanzen doch in sein Zimmer tun. Umgekehrt stand es ihr zu, in den gemeinschaftlich genutzten Räumen Poster und Kunstdrucke aufzuhängen und Zierkissen hinzulegen, wie sie wollte; Anne hatte nie gehört, dass Christopher sich beschwert hätte. Seltsame Verhältnisse, die so eine Ehe zwischen zwei Menschen schuf, sinnierte Anne.
    Sie sah durch den Raum und aus dem Fenster. Aus dem Himmel fiel zufrieden und beharrlich der Schnee herab. Es hatte am Kuhlmühlgraben auch Ereignisse gegeben, über die sie nie mit Luisa gesprochen hatte. Ein Name tauchte vor ihrem inneren Auge auf: Mark Taunstätt. Vielleicht würde sie Rebecca die Geschichte irgendwann erzählen.
    Die rothaarige Kellnerin ersetzte ein ganz in Weiß und Gelb gekleideter Schwarzer, der äußerst flink war. Sie hatten ihre Getränke vor sich stehen, kaum waren sie bestellt, und der Nachbartisch prostete sich ebenfalls zu. Zwei der Jungs, der dunkle und der blonde, sahen verdammt gut aus; der dritte war ein wenig dicklich und hatte helle Haut, die zum Rotwerden neigte, ähnlich wie bei Prinz Harry. Ein Hübscher für Becky, einer für mich, und der Prinz geht nach Hause, dachte Anne sarkastisch. Das passt ja. Der Dunkle sah sie direkt an, und sie schämte sich ein wenig wegen ihrer Tränen, doch gleichzeitig kam sie sich interessant vor, eher die tragische Heldin als die Heulsuse. Sein Gesicht irritierte sie, das kantige, etwas zu große Kinn, die extrem schräg gestellten Augen: War es möglich, dass er Mark Taunstätt ähnlich sah? Hatte sie deshalb eben an ihn gedacht, seit Langem einmal wieder? Oder erfand sie die Ähnlichkeit, weil sie in Gedanken ganz und gar am Kuhlmühlgraben war?
    Sie sah unauffällig erneut hin. Ja, eindeutig, er sah ihm verdammt ähnlich. Wie merkwürdig. »Anne?«
    Sie tauchte mit Mühe aus ihren Gedanken auf. Rebecca lächelte sie nachdenklich an.
    »Sag mal, kann es sein, dass du dich ein bisschen überidentifizierst?«
    Anne, die gerade tief Luft geholt hatte, um mit ihrem Lamento fortzufahren, starrte entgeistert in die wasserhellen Augen der Freundin: »Dass ich mich überidentifiziere? Mit wem?«
    »Na, über wen reden wir denn? Mit deiner Tante Luisa, meine ich natürlich. Ich meine«, fuhr Rebecca in besserwisserischem Ton fort, »ich meine, dadurch, dass du eben zu deiner Mutter kein so gutes Verhältnis hattest, hast du diese Tante Luisa etwas glorifiziert.«
    Anne verstand a) nicht, was das zur Sache tat, und b), wieso sie sich jetzt, in ihrem todtraurigen Zustand, Kritik anhören musste.
    »Du kritisierst meine Gefühle?«, hätte sie fragen sollen, aber stattdessen sagte sie: »Ich gehe mal zur Toilette, Sekunde«, und stand auf, um erst einmal die Fassung wiederzugewinnen. Vor dem Spiegel kühlte sie ihr Gesicht mit einem nassen Papiertaschentuch. Sie sah aus, als wäre sie soeben nach einer schlechten Nacht aus dem Bett gekrochen. Seit wann hatte sie Krähenfüße? Was lief da schief? Sie bekannte sich gerade – zu was, das war jetzt egal –, und was tat Rebecca? Rebecca trank. Rebecca wollte rauchen. Rebecca guckte Jungs an. War Anne nur unzufrieden mit sich selbst – sie hatte das alles nicht gut wiedergegeben, nichts davon kam dem Zauber ihrer Frankfurter Kindheitssommer auch nur nahe – und versuchte nun, die Schuld der Freundin zuzuschieben? Sie wollte nicht ungerecht sein. Aber was sollte sie weiter sagen, wie Sätze bilden, Subjekt, Prädikat, Objekt, wenn Rebecca gar nicht richtig zuhörte?
    Anne war bestürzt und böse.
    Sie dachte an ihr Verhältnis zu Luisa, an deren Seite sie entscheidende Schritte ihrer Entwicklung gegangen war. In den stundenlangen, abstrakten Gesprächen über Liebe, Sex, Fehlermachen und das Leben an sich hatte Anne sich ernst genommen gefühlt; und auch wenn Luisas Aussagen oft im Ungefähren, Beispiellosen blieben und von Anne nach Gutdünken ausgelegt werden konnten – sie entnahm diesen Sätzen Antworten und leitete Ratschläge daraus ab. Wenn Luisa nicht gewesen wäre, hätte sie mit Mark Taunstätt den größten Fehler ihres Lebens begangen, da war sie sich sicher. Alle anderen, sogar Christopher, hatten Mark für einen kleinen Wichtigtuer gehalten. Was für eine gefährliche
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