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Die Häuser der anderen

Die Häuser der anderen

Titel: Die Häuser der anderen
Autoren: Silke Scheuermann
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weg.
    »Warum hast du vorhin geheult?«, fragte John zwischen zwei Bissen. Er fragte ganz nebenbei, so, als ob weder Frage noch Antwort wichtig wären.
    »Ach, eine Freundin von mir hat Krebs. Haben sie gerade festgestellt«, sagte Anne genauso leichthin.
    Sie fand, dass Freundin irgendwie besser klang als Tante. Sie wollte kein kleines Mädchen sein, das sich noch über seine Familie identifizierte. Das war nicht cool.
    »Meine Mutter hatte auch Krebs«, sagte John ungerührt. »Dann hat sie eine Chemo gemacht, und nun scheint sie wieder völlig in Ordnung zu sein.«
    »Müssen wir uns jetzt über Krankheiten unterhalten?«, fragte Prinz Harry, und Anne sagte: »Nein, natürlich nicht. Er hatte eben nur gefragt.«
    Dann ging das übliche Gerede los, was sie studierte, woher sie kam, wie lange sie bliebe, wo sie wohnte, und die Jungs, die sich vom Medizinstudium kannten, erzählten ein bisschen von sich. Alle kamen darin überein, dass die Stadt großartig war, wenngleich es einiges an ihr auszusetzen gebe. Es war viel leichter, als Anne gedacht hatte; sie machte eine ganze Reihe geistreicher und schlagfertiger Bemerkungen, und als kurz darauf ihre Spaghetti kamen – sie hatte einfach das Tagesgericht bestellt –, war sie schon ganz entspannt. Die Jungs plusterten sich ein wenig vor ihr auf. Im Übrigen war keiner der drei ein waschechter New Yorker, Prinz Harry kam sogar aus Texas (was aber möglicherweise ein Scherz gewesen war, sie hatte es nicht genau verstanden). Während des Gesprächs hatte sich ergeben, dass sie John in die Augen sah und er von ihren Nudeln probierte. Er hatte große, misstrauische, blaue Augen und sie fragte sich, was es war, um das er Angst hatte betrogen zu werden.
    Sie aß ihre Spaghetti und sagte sich dabei, dass sie wieder eine Mutprobe bestanden hatte. Es war wirklich ein einfaches Rezept: Man gab einfach die Verantwortung ab, so war man es nicht selbst, der handelte, und nichts war unangemessen, peinlich oder blöde; sie war ganz und gar frei. Jetzt musste sie nur noch aufstehen, Tschüss sagen und gehen, hocherhobenen Hauptes, wie eine Diva, die gerade den Oscar überreicht bekommen hatte. Dann hätte sie gewonnen. Sie legte zehn Dollar auf den Tisch und stand auf: »Ich geh dann mal.« Keiner protestierte. Sie zögerte; sie fühlte sich leer und abgewiesen, aber nun war es unmöglich, die Worte zurückzunehmen.
    »Ich bringe dich«, sagte John, stand auf und gab ihr die zehn Dollar zurück. »Wir zahlen das – an unserem Tisch zahlen wir«, sagte er großzügig und nickte Prinz Harry zu, der bloß mit den Schultern zuckte.
    »Das ist nett«, sagte Anne weltläufig, zu niemand Bestimmten. Sie sah, wie die Jungs einen Blick wechselten: Ja, sie hielten sie für ein erstaunliches Mädchen, und so war es ja auch.
    Die Straßenlaternen ließen den Schnee bläulich schimmern, und es war rutschig, als sie die Bleecker Street entlanggingen, vorbei an den großen Schattenrissen der Bäume, die wie Riesen dastanden, monumental und leidend. Einen Augenblick lang spürte Anne den einsamen, eisigen Wind zwischen den Schulterblättern und zog mit einem kurzen Schaudern die Luft ein. Sie sah etwas Dunkles einen dicken Stamm entlang huschen, es waren diese grauen New Yorker Eichhörnchen, die, wie sie sich hatte sagen lassen, eigentlich Baumratten waren. John war ohne seine Kumpels nicht besonders gesprächig. Aber er hatte, kaum waren sie auf der Straße, nach ihrer Hand gegriffen. Sie fühlte sich hellwach und bedauerte, dass dieser merkwürdige Tag schon enden sollte. Sie wären bald in ihrer Gegend, dann müssten sie sich verabschieden. Sie überlegte, noch einmal das Gespräch über New York als Stadt aufzunehmen. Beim Essen hatte sie erfahren, dass John in der Sullivan Street wohnte und genau wie sie gnadenlos stolz war auf seine Adresse in Manhattan, während die beiden anderen von Brooklyn schwärmten. Ob er aus einer Kleinstadt kam wie sie?
    »Ich bin aus Boston«, sagte er.
    »Oh«, machte sie überrascht, »aber da muss man nicht weg, oder? Ich meine, nicht so dringend wie vielleicht aus Texas oder Connecticut. Oder Heidelberg.«
    Er schien sie zu verstehen und antwortete ihr überraschend ausführlich, indem er von seinem letzten Jahr am College, einer gescheiterten Liebe und einem verpatzten Footballspiel erzählte.
    »… und dann wusste ich auf einmal nicht mehr, ob es an mir liegt oder an Boston, dass ich das Leben satt habe. Ich meine, ich gab nicht Sandy oder meinem Trainer
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