Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nauraka - Volk der Tiefe

Nauraka - Volk der Tiefe

Titel: Nauraka - Volk der Tiefe
Autoren: Uschi Zietsch
Vom Netzwerk:
1.
Der junge Prinz

    Mhurin lachte schallend, bekam Schluckauf, dann war er tot. 
    Damit hatten die Jungen nicht gerechnet, nicht in diesem Moment oder sonstwann. Der Tod war etwas sehr Fernes, niemals Greifbares, was man nur selten erlebte und worüber man noch weniger sprach. Der Tod war ein Buhmann, mit dem man ganz kleine Kinder erschreckte, die ungehorsam waren. Der Tod kam höchstens zu den Alten und denen, die sich aufgegeben hatten.
    Doch Mhurin, so voller Leben und Jugend und Frohsinn, Mhurin war tot, plötzlich und unvorhergesehen.
    Und schlimmer noch: Mhurin war zweigeteilt. 
    Die messerscharfen Zähne des Spitzmaulhechts hatten seinen Körper durchschnitten wie der Ulu einen Fisch beim Entgräten, und während sich das Wasser blutrot färbte, schwebten Mhurins Rumpf und Unterleib in entgegengesetzten Richtungen davon. Doch nicht lange, dann schnappte das schwertlange Maul des Fisches zu, und noch einmal, und Mhurin war verschwunden. Sein Blut löste sich langsam in die See auf und wurde Teil von ihr. 
    Der Hecht kümmerte sich nicht um die ringsum schreienden Kinder. Seine Kiemen klappten befriedigt einmal kräftig auf und zu, dann verschwand er ebenso schnell, wie er gekommen war, ein silbrig blinkender Speer im Helldämmer. Und fort war er.
    »Ich habe es nie vergessen«, schloss Eri seine Erzählung und schwebte bedächtig auf und ab. Das Wasser floss ruhig durch seine Kiemen. »Und es schaudert mich noch heute, vor allem nachts im Traum. Mhurin war schließlich mein bester Freund.«
    Zugleich grimmig und vergnügt betrachtete der Prinz die Gesichter der kleinen Kinder, denen er die Geschichte vorgetragen hatte. Sie hatten ihn abgefangen, als er gerade auf dem Weg zum Tangwald war, und um eine kleine Mär gebeten. Eri hatte sich zur Wahrheit entschieden, die oftmals viel grausiger war als eine Schauergeschichte, und nun bereuten die Kleinen vermutlich, ihn nicht in Ruhe gelassen zu haben. Drei waren grün angelaufen, und zwei klapperten heftig mit den seitlich am Hals gelegenen Kiemen. Den anderen stand der Mund offen, und sie starrten ihn aus großen Augen an.
    Genau das hatte der Prinz damit erzielen wollen. Nicht nur, um ihre Aufmerksamkeit mit einer Gruselgeschichte zu fesseln. Sie sollten auch begreifen, wie gefährlich die Untiefen der See waren. Für Eri war es damals eine Lehre gewesen, stets wachsam zu bleiben. Trotz der überall postierten Wachen war der Hecht unbemerkt bis zur Stadt gelangt, inmitten des Tummelplatzes unter die Kinder gefahren, hatte sich sein Opfer geschnappt und war verschwunden, ehe auch nur ein einziger der schnell herbeigeeilten Erwachsenen einen Speer nach ihm werfen konnte. Sieben Korallenringe zählte der kleine Eri damals, und einen ganzen Korallenstab später, heute, fühlte er sich immer noch schuldig.
    »Also, was macht ihr, um euren besten Freund nicht zu verlieren?« Eindringlich sah er sie der Reihe nach an.
    »Wir passen auf ihn auf«, versprachen sie im Chor, und dann waren sie schon in einem Schwall Wasserblasen kichernd auf und davon. Mit heftig schlagenden Fußflossen witschten sie durch die engen Öffnungen des Korallengeflechts, hinaus in die Freiheit der See, die durch den Schutzring rund um den Spielplatz bewahrt wurde.
    Eri wandte den Kopf, als eine leichte Druckwelle gegen ihn schwappte, und er vernahm dumpfes Händeklatschen. Lurion, natürlich – sein Bruder. Schon längst erwachsen, sogar um einen Korallen baum älter als er, doch so benahm er sich kaum. Er frönte dem Glücksspiel und trank vergorenen Seegurkensaft in rauen Mengen. 
    »Du hörst dich genauso an wie Onkel Turéor, möchtest ihm wohl nacheifern?«
    »Was willst du?«, fragte Eri unwirsch. »Dass du zu dieser frühen Stunde überhaupt schon wach bist ...« Das war ein Scherz, denn die Hälfte von Helldämmer war schon überschritten. Bald würde Mittlicht hereinbrechen, das ungewisse Zwielicht, die Zeit der Jagd.
    »Ich gratuliere dir, lieber kleiner Bruder«, antwortete Lurion höhnisch. »Wie du die Aufmerksamkeit fesseln kannst! Oder scharst du dein kleines Volk um dich, um dir deinen eigenen Staat aufzubauen? Prinz Erenwin.« Er schwamm pfeilschnell auf Eri zu und packte ihn vorn an der Kragenstulpe. Wie alle Mitglieder der königlichen Familie trug Eri ein aufwendig gefälteltes, mit einer Schärpe versehenes, vielfach geschlungenes einteiliges Hosenkleid aus glänzender, in verschiedenen Farben schillernder Nixenkrautseide, und einen dunkelgrau glänzenden Schleierumhang
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher