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Die große Verschwendung

Die große Verschwendung

Titel: Die große Verschwendung
Autoren: Wolfgang Schoemel
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ehe Arm und Hand und all die anderen Körperteile schließlich gehorchten. Dieses Nicht-Gehorchenwollen seines Körpers passierte ja immer häufiger, und meist fiel Glabrecht dabei eine Verzweiflung an, oder diese hatte ihn unmittelbar zuvor angefallen und die Lähmung hervorgerufen.
    Halbfertig rasiert verließ er jetzt das Bad, ging die Treppe hinunter zum Telefontisch im Erdgeschoss, auf dem sein Besorgungsblock lag, und notierte: »Teleskop-Kosmetikspiegel, beleuchtet«. Mit dessen Hilfe würde er sich zum Rasieren nicht mehr über den Waschtisch beugen müssen.
    Genau jetzt öffnete sich die Tür von Mariannes Schlafzimmer. Im Nachthemd trat Glabrechts Frau in den Flur, betrachtete ihren nackten Mann, mit seinem halb eingeschäumten Gesicht, mit dem zusammengesunkenen Rasierschaum auf seinem immer noch rüsselhaft verlängerten und verdickten Schwanz.
    Es war sechs Uhr fünfundvierzig. Vielleicht stockte sie eine Sekunde lang bei dem Anblick, der sich ihr da bot? Die Wahrheit war, beide, Mann und Frau, stockten in ihren Bewegungen: Bei Glabrecht geschah das deswegen, weil er sich jedes Mal, wenn er Marianne nach ein, zwei Tagen Abwesenheit wieder begegnete, das Experiment verordnete, sie mit fremden Augen zu sehen. Das geschah ganz automatisch. Er prüfte also, was er empfände, sähe er sie genau jetzt zum ersten Mal. Sehr wichtig war dabei die Frage, ob er bei diesem imaginierten visuellen Erstkontakt eventuell Lust empfinden könnte, zumal dann, wenn Marianne, wie jetzt, unter ihrem Nachthemd nackt war.
    Marianne war vier Jahre jünger als Glabrecht, und er vermutete, dass sie sich trotz der zunehmend ausgeprägten Tonnenform ihres Oberkörpers gut gehalten hatte. Viel mehr konnte er dazu nicht mehr sagen. Er hatte den Eindruck, dass er sie nach all den Jahren gar nicht mehr angemessen wahrnahm, so ähnlich, wie das bei einem Bild war, das schon lange an der Wand hing. Nach Art intellektueller Frauen trug sie die ehemals blonden Haare naturgrau, glatt, halblang bis auf die Schultern, mit einem Mittelscheitel. Auch heute saß die Antifrisur, denn Marianne verließ ihr Schlafzimmer niemals, ohne vorher die Haare zu bürsten. Wenn Glabrecht sich diese Situation vorstellte, waren Mariannes Haare noch immer blond.
    Damals, als sie ein gemeinsames Schlafzimmer hatten, viele Jahre war das her, lag er häufiger im Bett und beobachtete, wie sie vor dem Spiegel stand. Sie war nackt, und er fand sie genau in diesen Momenten, während der strengen Bewegung des Haarebürstens, besonders begehrenswert.
    Und so war es klar, dass seine Experimente misslingen mussten. Er konnte die militante Schar von Erinnerungen leider nicht entwaffnen, auch dann nicht, wenn er sich gerade besonders stark von seiner Frau entfremdet hatte. Vielleicht hätte er sie, mit einem nicht abgenutzten Blick ausgestattet, noch weniger begehrt, als er das tatsächlich tat, weil die Erinnerungen an erotisch erfreulichere Zeiten subtrahiert gewesen wären von dem tatsächlichen Körper, der da vor ihm stand? Andererseits: Seine Enttäuschung, sein gerechter Zorn über den biologischen und erotischen Zerfall, der sich ihm offenbarte, hätten das tatsächliche Bild nicht verfälscht.
    »Wann bist du gekommen?«, fragte sie, als sei der merkwürdige Zustand ihres Mannes nicht der Rede wert.
    »Gegen eins.«
    »Du Armer! War es anstrengend?«
    »Wie immer. Endloses Gelaber, dann der umständliche Rückflug über Amsterdam. Aber die Norweger machen wohl wirklich ernst mit ihren Investments und mit der Unterstützung der Maritimen Oper .«
    »Und du? Bist du tatsächlich überzeugt von diesem Projekt?«
    »Darum geht es nicht«, sagte Glabrecht in einem Ton, der überraschend harsch ausfiel. »Städtekonkurrenz, Image, Events, Kreativorte, – das ist Zeitgeist, das ist so gewollt. Ich muss diesen Scheiß nun mal machen. Das ist mein Job.«
    »Wie geht es Klaus?«, sagte er nach einer kleinen Pause, jetzt in mildem Ton.
    Klaus, Mariannes Vater, vierundsiebzig Jahre alt, hatte vor drei Monaten einen leichten Schlaganfall gehabt. Marianne war am vergangenen Wochenende in ihrer Heimatstadt Wiesbaden gewesen, um ihn zu besuchen.
    »Er kann seine Beine wieder besser bewegen. Wir haben einen kleinen Spaziergang gemacht.«
    »Ich rufe ihn aus dem Büro an.«
    Jetzt kam Marianne tatsächlich heran und rieb mit der Rückseite ihres rechten Zeigefingers über die fertig rasierte Wange ihres Mannes, wie um eine liebevolle Geste zu zitieren, die einmal ihren Platz im
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