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Joli Rouge (German Edition)

Joli Rouge (German Edition)

Titel: Joli Rouge (German Edition)
Autoren: Alexandra Fischer
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    Prolog
    Windward Passage, Winter 1638
     
    In Émile keimte der Wunsch auf, sich über Bord der Barke
zu stürzen. Keine Sekunde, glaubte er, könnte er noch die
Selbstbeherrschung aufbringen, um trotz Hunger und Durst auf
der ihm bestimmten Position auszuharren. Doch er konnte
nicht schwimmen und dieses Unvermögen verdammte ihn dazu,
sich in sein Schicksal zu fügen, während sie in die
Dunkelheit glitten. Kein einziges Wort kam über die Lippen
der Männer. Seit Tagen schon waren sie den Gezeiten
ausgeliefert und lauerten mit wachsender Ungeduld auf das
Eintreffen der versprochenen Silbergaleonen.
    Die Windward Passage oder
paso de los vientos
, wie sie die
Spanier nannten, erstreckte sich zwischen La Española und
der Ostküste der Insel Kuba. Sie war bekannt für ihre
günstigen Winde, die die spanischen Schiffe im Winter in
Richtung Festland führten. Einem Fluch gleich hatte sich
jedoch eine Flaute über die verheißungsvolle Meerenge
gelegt, und die knapp fünfzig Männer kauerten
zusammengesunken im feuchten Bauch der Barke, den Blick auf
die wortlosen Befehle ihres Kapitäns gerichtet. Die Ruder
machten schmatzende Geräusche, als sie aus dem schwarzen
Wasser gezogen wurden, und verharrten in der Nacht. Émile
fror vor Anstrengung, und jeder Knochen tat ihm weh.
Aufgewachsen am Meer, hatte er die See schon immer
gefürchtet. Bevor er das französische Festland verließ, um
in diesem Teil der Welt neu anzufangen, hatte er nicht
gewusst, dass es Männer gab, die den Mut besaßen,
vollbeladene Galeonen von Bord eines Ruderboots aus
anzugreifen, das in seinen Augen bestenfalls Kanonenfutter
für die schweren Geleitschiffe der Spanier darstellte. Hätte
er nicht selbst gesehen, dass diese wagemutigen Aktionen von
Erfolg gekrönt waren, hätte er keinen Fuß in das schaukelnde
Gefährt gesetzt, das nach Moder roch und dessen Zustand auch
durch den Namen
La Foi
, Zuverlässigkeit,
nicht
vertrauenserweckender wirkte. Der Wunsch nach Anerkennung
und ein Anflug von Habgier hatten ihn dazu getrieben. In
diesem Moment verabscheute er sich besonders dafür. Müde
fragte er sich, wie er es schaffen sollte, an Bord eines
turmhohen Schiffes zu gelangen, dessen Mannschaft aus über
hundert Mann bestand. Wie sollte er, Émile Vigot aus der
Normandie, sich gegen diese Übermacht durchsetzen? Seine
Kühnheit holte ihn mit ganzer Härte ein, und er erschauerte.
Das Salzwasser juckte auf der Haut. Er leckte sich die
Lippen. Den Geschmack des Meeres kannte er bereits sein
Leben lang, und obwohl er versucht hatte, vor seiner
Vergangenheit zu fliehen, verfolgte ihn dieser Geschmack bis
hierher und ließ unliebsame Erinnerungen aufsteigen.
    Während sie warteten und über die Wellen schaukelten, sah
er das Dorf seiner Kindheit vor sich. Die Häuser von La Haye
du Puits waren aus schroffem Stein gebaut und sahen aus, als
würden sie sich ducken, um nicht vom Wind erfasst zu werden.
Er spürte den Hunger. Dieses verzehrende Gefühl, das ihm
bereits morgens beim Aufwachen jede Lebensenergie raubte und
die Gedanken verlangsamte. Wenn Émile an seine Kindheit
dachte, war es dieses Gefühl, das ihm einfiel. Neben seiner
Mutter Alizée. Hätte er dem Hungergefühl eine Farbe geben
müssen, wäre es Schwarz gewesen. Ein schwarzes Loch, das
sein Leben bestimmte und ihn innerlich auffraß. Eine
passende Farbe für seine Mutter wäre Rot, denn sie war das
Licht in Émiles Leben. Ihre Haare leuchteten wie Herbstlaub
und es war, als ob selbst an kalten Tagen eine beruhigende
Wärme von ihr ausging. Émile umkreiste sie wie die Sonne,
denn sie brachte ihn zum Lachen und überließ ihm das meiste
der täglichen Mahlzeit, obwohl ihr eigener Körper stetig
hagerer wurde. Seinen Vater hatte Émile nie gekannt. Ob er
starb oder fortging, blieb das Geheimnis seiner Mutter.
Ebenso wie ihre Arbeit. Sie wusste um die Wirkung von
Kräutern, die sie tagsüber im sumpfigen Umland sammelte und
in Büscheln entlang der rückwärtigen Hauswand trocknete, um
sie anschließend zu zerreiben und zwischen gegerbten
Tierhäuten aufzurollen. Diese Päckchen versteckte Alizée
hinter lockeren Mauersteinen. Zurück blieb der würzige Duft,
der jeden Winkel ihres winzigen Hauses erfüllte. So lebten
sie zehn Jahre unbescholten in dem kleinen Ort. Bis zu jenem
Tag im Frühjahr, als ein Pulk Menschen aus dem Dorf
auftauchte und die Mutter der Hexerei beschuldigte. Bereits
Tage vorher hatte
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