Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die große Verschwendung

Die große Verschwendung

Titel: Die große Verschwendung
Autoren: Wolfgang Schoemel
Vom Netzwerk:
er morgens die Haustür öffnete, und vor der Einfahrt wartete wie ein großer schwarzer Hund die Senatskarosse, eine nagelneue E-Klasse von Mercedes . Manchmal stellte Glabrecht sich vor, wie der Wagen bei seinem Anblick mit dem Schwanz wedelte. Es war ja auch tatsächlich so ähnlich, wenn der Senatschauffeur, Herr Berlepsch – den Vornamen hatte Glabrecht vergessen –, sogleich die Fahrertür öffnete, sie beim Aussteigen wieder ein wenig zu sich heranzog, sich aufrecht hinstellte, dabei die Tür wieder vollends öffnete und seinen Chef anlächelte. Das alles geschah mit absolut zuverlässiger Präzision.
    Er hatte gewiss schon fünfzehn, zwanzig Minuten gewartet, und er hätte auch weitere zwei Stunden gewartet. Er wartete offenbar sehr gern, weil es seine bezahlte Arbeitszeit war, die dabei verging. Bei einem Ruhepuls von sechzig, so hatte Glabrecht berechnet, brachte jeder Herzschlag fast einen Cent brutto, rechnete man die Arbeitgeberanteile und so weiter ein. Dass beim Warten das Leben sinnlos verrann, der Tod langweilig und unspektakulär heranrückte, das schien Herrn Berlepsch nicht zu stören. Im Grunde hatte er durchaus Recht. Spektakulär rückte der Tod ja lediglich bei Unfällen, Krebs und Ähnlichem heran.
    Aber all dies waren Gedanken von Glabrecht. Herr Berlepsch dachte sicher anders. Für ihn war das Herumsitzen bloß die Wartezeit auf den Feierabend, das Wochenende, den Urlaub, auf die Rente, die da so bequem, mit bloßem Herzschlagen, Verdauen und Zeitunglesen herumgebracht wurde, an Abenden auch häufig mit Schlafen im Auto. Für ihn war die Rente keineswegs die Zeit des akut herandrohenden Todes. Er las die BILD -Zeitung, während er wartete. Manchmal ließ sich Glabrecht diese Zeitung nach hinten reichen. Sie unterminierte, das musste er ihr lassen, die allgemeine Heuchelei. »Hat er endlich die große Liebe gefunden?«, fragte BILD , als der in umfassender Weise amöbenhafte, entweder fettsüchtige oder aber lauthals abspeckende Parteifreund und Ex-Außenminister zum fünften oder sechsten Mal die aktuelle Ehefrau durch ein jüngeres Exemplar ersetzte. Diese schlauen zynischen Boulevardjournalisten kannten die zunehmende, ungebremste und erstaunlich unverhohlene Verhurung der Gesellschaft sehr gut! Um die notorischen Menschheitsfreunde zu verhöhnen, stellte man sich ein bisschen dumm. Das gefiel Glabrecht, auch wenn es niemandem irgendetwas nutzte.
    Im Wagen fand er, wie stets, den Tages-Terminplan vor, den sein persönlicher Referent und sein Büro für ihn vorbereitet hatten. Er nannte diesen Plan »Menü des Tages«. Musste er eine Rede halten oder eine Pressekonferenz bestreiten, waren die zu sprechenden Texte ebenfalls beigefügt, von den jeweiligen Fachreferenten geschrieben und vom persönlichen Referenten auf den Sprachduktus des Dienstherrn hin frisiert. Ablaufpläne lagen bei, Beschreibungen von wichtigen Personen, Komplimente, die diese Personen gerne hören wollten. Ihre Empfindlichkeiten waren aufgelistet, manchmal auch – dies zur Vorsicht stets handschriftlich auf kleinen, leicht zu entfernenden gelben Heftzetteln – Warnungen, zum Beispiel: »Vorsicht, starker Mundgeruch!« oder »Ist für seine Eitelkeit bekannt.« Knappe Inhaltsangaben der Bücher waren angefertigt, die von den Gesprächspartnern verfasst worden waren. Schwierige fremdsprachige Namen waren in Lautschrift notiert, so wie neulich, als eine Delegation aus Litauen kam. In solchen Fällen ließ Glabrecht sich die Namen sicherheitshalber zusätzlich in Acht-Punkt-Schrift ausdrucken und klemmte sich einen Zettel unter sein Uhrenarmband, so dass er sie im Notfall unauffällig ablesen konnte. Diese Technik hatte er bereits am Gymnasium in Geisenheim angewandt, damals für mathematische und physikalische Formeln.
    Derart gut vorbereitet, hatte er bislang selbst lange, zwölf- oder vierzehnstündige Arbeitstage mit relativ geringer seelischer Anteilnahme bewältigen und sich intensiv um die Pflege seiner fast ständigen Erschöpfung kümmern können. Den eigentlichen Stress hatten seine Zuträger, die Textproduzenten, Terminmacher, die Organisatoren gehabt. Das änderte sich jedoch gerade sehr merklich, seitdem das Gezänk um die Maritime Oper ausgebrochen war.
    Wie immer fuhr Herr Berlepsch die Lilienthaler Heerstraße stadteinwärts, über den Autobahnzubringer, an der Universität, dem Globus und der Baustelle des Kosmos vorbei.
    Der Globus war das bremische Science-Center , vor dem bis vor ein, zwei Jahren an
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher