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Die große Verschwendung

Die große Verschwendung

Titel: Die große Verschwendung
Autoren: Wolfgang Schoemel
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äußerlichen Fortpflanzungsapparat über den Rand zu heben und drinnen im Waschtisch zu lagern – ein überaus würdeloser Anblick.
    Der Spiegel verfügte über eine erbarmungsvolle und gemütsschonende Rundum-Schminkbeleuchtung. Er zeigte die vollen und drahtigen Haare, den Oberkörper mit den beträchtlichen Muskeln, seinen Kuhlen und Hebungen unter der älter werdenden Haut.
    Aus Protest gegen das Verschwinden seiner Lebenszeit hatte Glabrecht in den vergangenen Jahren viel Sport getrieben. An sich konnte er sehr zufrieden sein mit dem Auftritt seines Körpers, wäre da nicht das Gesicht gewesen, das ja nachweislich zum Körper zählte. Es war nicht so, dass er sein Gesicht hasste oder dergleichen, es handelte sich lediglich um einen beständigen schlimmen Verdacht, den er da hegte und dessen Berechtigung er deswegen nicht überprüfen konnte, weil es nicht zu betrachten und bewerten war wie zum Beispiel der Schwanz oder der Arm, der den Rasierapparat hielt. Stets waren es nur isolierte Partien des Spiegelgesichts, mit denen er sich beschäftigte, nie sah er das Antlitz in seiner Gesamtheit. Glabrecht nannte dieses Phänomen seinen »Rasierblick«. Häufiger betrachtete er auch andere Gesichter, Dinge und Menschen auf eine fragmentierte Art, die ihm Angst machte.
    »Adriana Fallhorn«, sagte er leise vor sich hin, als sei dieser Namen eine Art Losungswort. So hieß sie, die junge Frau, der er noch vorgestern Abend in Oslo gegenüber gesessen und die ihm von ihren bremischen Großeltern erzählt hatte, die 1936 nach Argentinien ausgewandert waren, von ihrer Jugend in Zürich, ihrem Studium in Lüneburg. Adriana Fallhorn, »Assistentin der Geschäftsleitung« bei der Nordic Urban Development , jenem Unternehmen, mit dem er über das große Neubauprojekt im Hafen verhandelt hatte.
    »Offenbar führt Ihr Lebensweg Sie immer näher an Bremen heran«, hatte Glabrecht, der Bremer Wirtschaftssenator, gesagt, in der Absicht, charmant zu sein, ohne jedoch zu bedenken, dass Oslo eindeutig weiter von Bremen entfernt lag als Lüneburg. Es war wohl gar nicht Bremen, sondern er selbst, zu dem jener Lebensweg hinführen sollte. Das war ihm erst später in der Nacht aufgefallen, im Hotelbett, als die Euphorie des Alkoholrauschs nachließ. Und er hatte sie ziemlich übergriffig gefragt, ob sie »allein lebe«, was sie, mit etwas zu ernster Miene, bejaht hatte. War es nicht außerdem so, dass er Adriana jene Abschiedsumarmung im Foyer des Osloer Hotels in Wahrheit aufgedrängt hatte? Hatte sich ihr Körper nicht steif gemacht und war da nicht ein leichtes Wegdrehen ihres Gesichtes gewesen – eine Vorsichtsmaßnahme gegen eventuelle Kussversuche Glabrechts? Hatte sie sich am Ende sogar geekelt vor ihm? – Diese unerträgliche Vorstellung hatte ihn bis zum Morgen nicht mehr schlafen lassen, und auch jetzt noch durfte er gedanklich nicht einmal in ihre Nähe kommen, ohne dass er sich zusammenkrampfte vor Scham.
    Eine Erinnerung an Adrianas Gesicht stellte sich hingegen im Augenblick nicht ein, eher der Gedanke daran, wie gern er sie angeschaut und wie er dabei über den Altersunterschied nachgedacht hatte, über die Jahre, die er nicht zurückgeben konnte an sein Leben.
    Vor dem Spiegel stehend, atmete er tief ein, hielt die Luft an und hob seine Handrücken vor die Augen. Wann würden wohl die ersten Altersflecke zu sehen sein? Lieber als auf den Händen hätte er sie auf seiner Seele oder auf seinem Triebleben gehabt. Diese beiden hinkten jedoch dem körperlichen Altern aussichtslos hinterher.
    Mit einer herrisch anmutenden Bewegung nahm er jetzt eine Handvoll des Rasierschaums, den er gerade auf sein Gesicht auftrug, und klatschte ihn auf seine immer noch im Becken lagernden Geschlechtsteile. Ob jemand seine Glückprojektionen tatsächlich derart komplett auf ihn bündeln könnte, wie es nötig wäre, um in ihn, Georg Glabrecht, verliebt zu sein? Glabrecht dachte tatsächlich: »jemand«, und nur dieses eine Wort dachte er buchstabengenau. Alles andere war lediglich ein Gedankenhauch, ein Zustand, in dem sich seine Gefühle aufhielten, und dem er erst einige Sekunden später Gedankenworte zu geben versuchte. Wie sollte jemals wieder eine Frau in jenen Zustand der Anbetung seiner Person, seines Körpers verfallen, der allein seinem Leben einen Sinn geben könnte?
    Seine rechte Hand mit dem Nassrasierer stand regungslos in der Luft neben seiner Wange. Drei-, viermal gab er sich die Anweisung, das Tagewerk gefälligst fortzusetzen,
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