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Die große Verschwendung

Die große Verschwendung

Titel: Die große Verschwendung
Autoren: Wolfgang Schoemel
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dieser Villa. Glabrecht fühlt sich, als sei er aus der Zeit gefallen. Es ist still draußen, und die Finsternis des Abends ist da. Dennoch ist der Rhein dunkeldämmrig zu sehen, und ein mit feuchter Erde und Flusswasser beladener kalter Hauch weht leicht den Hang hinauf zu ihnen hin. Glabrecht ist bei Madlé aufgehoben und wenigstens vorübergehend zur Ruhe gekommen. Nirgendwo sonst möchte er sein heute Abend. Nichts anhaben kann ihm der kalte Hauch, obwohl er dessen Botschaft deutlich vernimmt – und das ist ein angenehmer Zustand, der sich vielleicht einprägt ins Seelenleben.
    »Hoffentlich habe ich dich verstanden«, sagt er. »Man könnte ja meinen, man wird mit der Zeit immer skeptischer, was die bedeutenden Wörter angeht – ich meine, skeptischer, ob diese Wörter die Hoffnung erfüllen, die man in sie setzt, oder ob das überhaupt existiert, was sie so selbstsicher und arrogant benennen. Also: Liebe. Hass. Unendlichkeit und so weiter, Tod natürlich, vor allen anderen. Und dann wird man älter und beginnt, im Gegenteil, diesen Wörtern immer mehr zu vertrauen. Vielleicht aus Schwäche, aus Angst oder Verzweiflung? Weil der Tod näher kommt, weil irgendetwas ja unbedingt stimmen muss , aufgehen muss in diesem Leben? Irgendwann kniet man in Andacht nieder vor den Wörtern – so wie damals, als ich Messdiener war. Jeder rebellische und intelligente junge Mann, der einen beim Gläubigwerden beobachtet, würde lachen und denken: Der kitschige alte Sack hat ja überhaupt nichts kapiert.«
    Madlé ist aufgestanden, das Glas in der Hand, dreht sich zum Rhein hin. »Nein, nein, ich nicht, ich hätte nicht gelacht als junger Mann!«, sagt er mit einer Stimme, die klingt, als habe er starke Schmerzen. »Aber vielleicht war ich ja nie ein junger Mann.«
    »Weißt du«, sagt er, »manchmal habe ich das Gefühl, geistig zu verflachen und zu verblöden, weil ich so vieles abschneide von mir. Dann wieder fühle ich mich auf dem richtigen Weg, hin zum Echten und Elementaren, zum Holz, zum Stein, zum Wasser, zu den wenigen Dingen, die etwas bedeuten. Das ist vielleicht eine Möglichkeit, um meinen Schmerz zu verwalten, was ich ja hauptsächlich oder, um im Bild zu bleiben, hauptamtlich tue, auf der Suche nach seinem Zentrum, nach diesem winzigen schwarzen Loch, an dem die gesamte Gravitation meines Universums versammelt ist und in das hinein alles gerissen wird, was ich tue. Ich möchte diesen Punkt derart exakt und plastisch vor mir sehen wie den Einstich, den eine Nadel auf einem Stück Büttenpapier hinterlässt.«
    Er hat das atemlos gesprochen, gehetzt und gemartert. So ist es immer gewesen, wenn er derartige Sätze sprach.
    »Also ich liebte diese Frau!«, sagt er dann noch einmal, nach einer Pause, plötzlich ganz ruhig.
    »Sie ist übrigens vor meinen Augen zu Tode gekommen. Es war ein paar Jahre, nachdem du und ich zusammen studiert hatten. Bitte frag mich nicht danach! Eigentlich wollte ich sowieso nur über den Satz sprechen, den sie mir gesagt hat, nämlich dass sie keine Beziehung haben kann. Und, weißt du was? Sie hat die Wahrheit gesagt, aber ich habe ihr nicht eine Sekunde lang geglaubt. Im Gegenteil, für mich war ihr Satz ein Beweis dafür, dass ich die Richtige kennen gelernt hatte, und dass diese Frau in ganz besonders heiliger Weise dafür geeignet war, eine Liebesbeziehung zu führen – und zwar mit mir, nur mit mir, dem Paten der verlorenen Seelen.«
    Glabrecht leert sein Glas, während Madlé, der am Ende die Stimme erhoben hatte, sich wieder hinsetzt. Er zeigt starke Gemütsbewegungen in seiner Mimik und in seinen Gesten. Seine Augen sind nass.
    »Du meinst«, sagt Glabrecht, »ich soll mir klar machen, dass meine Adriana niemanden glücklich machen kann und dass niemand sie glücklich machen kann? Aber das kann doch, streng genommen, überhaupt niemand von sich sagen. Ich habe ihr auch entsprechend geantwortet damals.«
    Mindestens eine Stunde lang hat Glabrecht vorhin über Adriana geredet, über die Ferne, die er in ihr gespürt hat, über seine nach wie vor unbekannten Wünsche, die genau in dieser Ferne verloren gegangen sind, und über die Schmerzen, die ihm Adrianas Abwesenheit in seinem Leben zufügten.
    »Dennoch, du musst die Botschaft glauben , die in solch einem Satz liegt. Sie hat ihn ja mit besonderer Bedeutung, an einer besonderen Stelle gesprochen. Du bist kein lasergesteuertes Präzisionsgeschoss, das ihren Bunker bricht. Schon gar nicht an der richtigen Stelle. Es ist wahr,
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