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Die große Verschwendung

Die große Verschwendung

Titel: Die große Verschwendung
Autoren: Wolfgang Schoemel
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Eine kompromisslose Reinheit der Gestaltung, vielmehr der Nicht-Gestaltung herrscht, die etwas Klösterliches an sich hat. Madlé liest Glabrechts Blicke und gibt einige Erläuterungen ab. Er habe fast alle Bücher »entsorgt«, sagt er, »außer meiner kleinen Sammlung von Schwermutsliteratur, zeitlich geordnet.«
    Glabrecht tritt zum zweiten Mal heran an das Regal, sieht links oben Büchners Lenz , Goethes Werther und den Hyperion von Hölderlin, geht in die Knie, um zu schauen, was rechts in der Mitte und unten steht, sieht einiges, was sie beide schon damals gelesen haben, Knut Hamsun, Emmanuel Bove, Italo Svevo, Heimito von Doderer, Cioran, Pavese, Thomas Bernhard, außerdem Pessoas Buch der Unruhe .
    »Im Allgemeinen sind Bücher totes Material, das man nie wieder in die Hände nimmt«, sagt Madlé, der hinter Glabrecht steht.
    »Magische Gegenstände, die einen beschützen sollen vor der Leere. Aber gerade die Leere ist es, die ich suche. Im Übrigen bekomme ich fast alles aus dem Internet. Es kommt – und es verschwindet, wenn ich es nicht mehr brauche. Herrlich! Ich stelle mir vor, ich könnte alles aus dem Netz ziehen, ich meine: Bett, Stühle, Kaffeekanne und so weiter, und nach dem Benutzen wieder wegklicken. Mit den Sexpartnerinnen klappt das ja bekanntlich schon.«
    Er lacht. »Am haptischen Empfinden wird noch gearbeitet, aber das kriegen die schon hin. Ebenfalls am Seelenfrieden. Ich habe dir übrigens ein Einzelzimmer in einem ruhigen Hotel reserviert, hier ist es zu eng für uns beide. Selbstverständlich geht die Rechnung an mich.«
    »Seelenfrieden« und »Einzelzimmer«, das spricht er ohne Pause hintereinander weg, ohne die Stimmlage oder seine Mimik zu verändern. Glabrecht geht in die Küche, öffnet die Tür zum Balkon und schaut hinaus, den kleinen Hang hinunter auf den Rhein, während Madlé hinter ihm weiter doziert und er einen Eindruck hat, als sei keine Zeit vergangen seit damals, als sie beide jung waren und als er den anderen häufig hat reden hören, von einem Thema in das nächste springend, wie berauscht von seiner eigenen Hoffnungslosigkeit, immer sozusagen in kontroverser Mission, immer virtuos irrsinnig. Viel gelacht hat Glabrecht damals über ihn und sich gefreut darüber, jemanden zu haben, der den gleichen Humor hatte, einen solchen, der offenbar einsam macht – wie sich inzwischen erwiesen hat.
    Wie es ihm zufließt aus der Vergangenheit, warm und vertraut, aus den Tagen, die sie damals zusammen verbracht haben! Kleine Szenen huschen vorbei, die Kneipentouren, die gemeinsamen Versuche, Frauen zu erobern. Zweifellos: Das Fleisch der Freundschaft ist die geteilte Erinnerung an gemeinsame Erlebnisse.
    Unten am Ufer die zerzausten Bäume und Büsche, die einen Teil des Blicks auf den ruhigen Strom verstellen, in dem sich die Helligkeit des milchigen Abendhimmels und der dünnen Schichtbewölkung spiegeln: Sie zeigen deutliche Blattverfärbungen, besonders an ihren Südflanken, dort, wo die Sonne den Sommer über gelegen hat. Es ist Mitte Oktober, und in diesem Jahr hat man tatsächlich jenes klare und erstaunlich tageswarme Wetter, das den Oktober früher zu Glabrechts Lieblingsmonat gemacht hat.
    Er ist in seinem alten Porsche angereist, im Kofferraum die beiden Grabschilder seiner Eltern, die er zurückbringen will an die Gräber. Madlé hat ihn eingeladen. Er solle sich keine Hoffnung machen, er könne ihm nichts Neues sagen, aber »im Duett mit dir singen« könne er und mit ihm spazieren gehen.
    »Ich habe eine Frau gekannt«, sagt Madlé, »die mir mitteilte, sie könne keine Beziehung haben. Heute gehe ich so weit zu sagen, dass ich diese Frau liebte. Heute vertraue ich diesem Wort, und ich vertraue dir dieses Wort an. Wenn ich es ausspreche, trägt es tatsächlich dieses Gefühl aus mir heraus. Verstehst du, was ich meine, Glabrecht? Es trägt dieses Gefühl aus mir heraus.«
    Sie haben schon eine Menge getrunken, den Riesling einer aus Bremen stammenden Rheingau-Winzerin, von der Madlé kurz erzählt hat, und Glabrecht erinnert sich wieder einmal daran, warum er so viel trinkt. Alles steht oder bewegt sich dann so sauber und fein abgegrenzt im Raum, und am besten tun das die Dinge, die man sagt. Manchmal tanzen sie, nachdem man sie gesprochen hat. Ganz von alleine tun sie das.
    Trotz der zunehmenden Kühle sitzen Glabrecht und Madlé vor der offenen Balkontür an einem kleinen quadratischen Tisch aus unbehandeltem Holz, der so aussieht, als stehe er von Beginn an in
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