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Die große Verschwendung

Die große Verschwendung

Titel: Die große Verschwendung
Autoren: Wolfgang Schoemel
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konnten, die ihn als »verbrannt« betrachteten und die ihm außerdem vollkommen zu Recht tief misstrauten, was seine Treue zu den wichtigsten grün-alternativen Glaubenssätzen anging. Schon sah er sich ohne Ankleidezimmer, schon fragte er sich: »Wohin mit meinen Rotweinvorräten? Wohin mit mir selbst?« Vielleicht durfte er auf Mavenkurt und seine Liechtensteiner Stiftung hoffen? Aber würde man denen nicht bald das Handwerk legen?
    Es war Ende September, zwei Wochen nach der Wahl und nach dem Zusammenbruch der Lehman Brothers Investmentbank . Glabrecht, der sein Amt noch kommissarisch ausübte, hatte dermaßen an Gewicht verloren, als habe das Versiegen der Geldströme auch den Stoffwechsel seines Körpers erfasst. Endlich konnte er seinem Badezimmerspiegel mitteilen, dass eine bereits ans Greisenhafte erinnernde neue Stufe des körperlichen Zerfalls betreten war: Auf dem sehnigen Körper mit seiner welken Haut, die direkt und von keinem Bindegewebe gepolstert auf den seit langem nicht mehr trainierten Muskeln auflag, saß neuerdings ein vergleichsweise viel zu großer Kopf, ähnlich wie bei Frau Professor Irmgard Vollmer, mit Augen, die sich erschrocken ins Innere zurückzuziehen schienen.
    An diesem Montag – noch wartete der gehorsame schwarze Mercedes vor dem Haus in Borgfeld, das nach außen hin nichts von seiner Würde verloren hatte – setzte er sich zu Berlepsch, bei dem er ebenfalls ein gewisses Nachlassen an Respekt festgestellt hatte, ins Auto, ließ sich aber nicht in die Behörde, sondern zu Dr. Mühlecker fahren. Sein Herz hatte die ganze Nacht über abwechselnd gerast und viel zu langsam geschlagen. Außerdem waren feurige Schmerzen durch die Brust und den linken Arm hinauf gezogen. Er hatte gewimmert vor Todesangst und vor Wut, unten im Flur vor dem Dielenschrank weinend vor Lilli gekniet und sie Adriana genannt. Mehrfach, was neuerdings häufig vorkam, war mitten aus dem Zentrum der Verzweiflung geradezu explosionsartig die Geilheit aufgestiegen, als seien das zwei Aggregatzustände desselben Elements, die Verzweiflung und diese Art von extremer, aber keuscher Geilheit, die sich nicht auf Adrianas nackten Körper bezog, sondern auf ihre Existenz als solche. Die folgenden onanistischen Exzesse endeten mit Orgasmen, die intensiver und hoffnungsloser nicht hätten sein können.
    Selbstverständlich hatte er auch einige Male Adriana hochgefahren, in der irrsinnigen angstvollen Hoffnung, eine Mail von der Namensgeberin könnte hereingekommen sein. Sätze hatte er lesen wollen, vor deren Kitsch er sich noch vor wenigen Wochen bekreuzigt hätte. Unvorstellbar auch, dass er jemals Pornografie konsumiert hatte! Aus diesem Computer war sie gekommen, der damals noch Vorsehung hieß und vor dem Glabrecht jetzt in schlimmster Weise verseelt am Boden gelegen hatte, weitestmöglich weg von jedem Gedanken an irgendein Genital, sozusagen im Zustand äußerster Romantik. Und er rieb sich die Brust, in der ein Schweißbrenner zu arbeiten schien, drückte die Faust in den zusammengekrampften Bauch, hielt immer wieder die Luft an, um Atemgeräusche zu vermeiden, die den Gong der Haustür oder das Signal eines der Telefone hätten übertönen können.
    » Broken Heart Syndrom nennt man das neuerdings«, sagte Dr. Mühlecker. Glabrecht hatte angedeutet, was geschehen war. Er erhielt ein paar Betablocker, Tavor für die Nächte sowie ein Rezept für einen Serotoninwiederaufnahmehemmer.
    »Das schreibt man tatsächlich in einem Wort«, sagte Dr. Mühlecker, »es ist das längste Wort, das ich überhaupt verwende, und ich verwende es immer häufiger.«
    Spazieren solle er gehen, laufen, rennen, so viel er könne.
    »Belasten Sie Ihr Herz so lange, bis es kapituliert! – Und haben Sie Ihre Darmspiegelung machen lassen?«, sagte er.
    »Ja, ja«, sagte Glabrecht, »alles wie neu da drinnen.«
    Einige Tage später, es war ein Sonntag, ging Glabrecht einen sandigen Weg an einem Wassergraben in den Wümmewiesen entlang. Das Antidepressivum, das er folgsam eingenommen hatte, trug er in der Jackentasche, gerade so, als verstärkte die bloße Anwesenheit der Tabletten ihre Wirkung. Er hatte eine Nacht lang vor Adriana gesessen, gegoogelt und gelesen, was das Netz hergab über das Zeug. Ein missratener endloser Onanieversuch hatte schließlich die im Beipackzettel des Medikamentes erwähnte Möglichkeit von Ejakulationsstörungen bestätigt. Aber wenn es denn etwas gab, das im Augenblick nicht benötigt wurde, dann waren es
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