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Die große Verschwendung

Die große Verschwendung

Titel: Die große Verschwendung
Autoren: Wolfgang Schoemel
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gewiss Ejakulationen.
    Seit über zwei Stunden war er unterwegs, und endlich bildeten sich Sätze in ihm, die die wabernde Panik in Fassung bringen wollten. Er wiederholte sie, und je häufiger er das tat, desto stabiler wurden die Strukturen im Gemüt, in einer Weise, als würden sie mit irgendetwas ausgegossen, das rasch erhärtete. Sogar eine Art bescheidene Euphorie stellte sich ein wegen dieses urplötzlich zu spürenden fast robusten Vorhandenseins auf dem Quadratmeter, auf dem er sich gerade aufhielt.
    Dass der dünne Nebel, der über dem Land lag und die Horizonte verbarg, nichts von ihm verlangte, empfand Glabrecht jetzt als angenehm. Eine graue Decke von vollkommener Gleichgültigkeit lag über den frühherbstlichen Wiesen mit ihren immer noch zahlreichen Blütentupfern, mit ihren Kanälen und Baumgruppen. Nach oben, zum Himmel hin, schien sich der Nebel zu verdicken. Es war schon fast achtzehn Uhr, und irgendwo über dieser grauen Decke nahm jetzt das Licht rapide ab. Auf einmal war es so, als fingen die üppig wachsenden, teilweise schon Gelb- und Ockertöne zeigenden Gräser, die Wiesenblumen am Ufer des Grabens und der sandige Weg aus sich selbst heraus zu leuchten an. Sie waren deutlich lichter als der inzwischen dunkelgraue Himmel, auch der Dunst zwischen den Schwarzerlen und dem Weidengebüsch war unangemessen hell. Über einige Minuten hinweg beleuchtete nicht der Himmel die Erde, sondern umgekehrt die Erde den Himmel. Sie strahlte offenbar das Licht ab, das sie im Sommer gespeichert hatte. Es waren nur wenige Minuten, in denen das alles so war. Dann hatte sich die Dunkelheit ausgebreitet. Am kommenden Wochenende würde Georg Glabrecht endlich Christoph Madlé besuchen.
    Madlé bewohnt eine ehemalige Dienstbotenwohnung in einer schönen alten Villa, direkt am Rhein, zwischen Walluf und Eltville, gelegen. Glabrecht kennt das schlossartige Gebäude aus seiner Kindheit, hat sich deswegen immer eine riesige Wohnung vorgestellt, wenn er Madlés Adresse las. Stattdessen erwarten ihn drei winzige Zimmer, alle zum Rhein hin ausgerichtet, Mönchszellen gleich, jeweils mit einem hochgelegenen kleinen Fenster, ein Bad, in dem keine zwei Menschen gleichzeitig stehen können, eine kleine Küche mit Balkon, ebenfalls zum Rhein hin. Und diese Wohnung ist nicht einmal vollgestellt, sie wirkt vielmehr, als lebe ein Mensch in ihr, der fast alles weggeworfen hat, was er jemals besaß.
    Madlé nimmt den anderen kurz in die Arme, und Glabrecht geht danach langsam wie ein neugieriger Kater über die alten, dunklen und äußerst sauberen Holzdielen von Zimmerchen zu Zimmerchen. Eines davon beherbergt ein Klavier, und Madlé sagt, er versuche gerade ein »Begehrensvakuum« aus seiner Kindheit zu füllen, indem er Unterricht bei einer serbischen Pianistin nehme, in die er sich, zu allem Überfluss, »mehr oder weniger verliebt« habe. Aber es sei wohl zu spät für beide Vorhaben, für das Klavierspielen ebenso wie für das Verlieben. Er könne in seinem Alter nicht mehr schlecht auf irgendeinem Gebiet sein, gleich auf welchem. Jedenfalls zeige die Pianistin einige Verärgerung wegen seines nicht ausreichenden Fortkommens. Den Rest habe sie gar nicht erst bemerkt.
    Zwei Ölgemälde hängen in der Wohnung. Sie zeigen in verschwommen realistischer Weise den Waldboden – verrottendes Holz, Erde, Gräser, Beeren, im Schatten oder in den Lichtbahnen der Sonne, wie sie durch das Laub brechen. Trotz der überwiegend dunklen Farben scheinen die Bilder zu leuchten und die Zimmer zu erhellen. Sie gefallen Glabrecht gut, und er muss lachen, weil sie derart extrem genau zu Madlé passen, so, wie er ihn immer erlebt hat, nämlich als jemanden, für den es nur eine einzige Religion gibt, die Anbetung der Natur. Schon immer hatte außerdem fast alles, was sich um Madlé herum befand, ganz extrem gut zu ihm gepasst. Oder es war so, dass er die Dinge in seiner Körpernähe dazu gezwungen hatte, zu ihm zu passen – wie auch immer.
    Jedenfalls ganz und gar diktatorisch durchdacht und durchherrscht ist der Wohnraum, den er um sich herum duldet. Im Schlafzimmer stehen ein Regal mit lediglich ein paar Dutzend Büchern und ein Kleiderschrank, im dritten Zimmer der Schreibtisch mit dem PC, eine kleine Musikanlage, eine Couch. Karger geht es nicht mehr, nicht mal ein Fernseher ist vorhanden. Es gibt keine kleinen, isolierten Gegenstände, die irgendwo herumstehen oder -liegen. Alles ist offenbar eingehöhlt worden in den Schränken und Truhen.
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