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In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)

In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)

Titel: In dieser ganz besonderen Nacht (German Edition)
Autoren: Nicole C. Vosseler
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Wenn man stirbt, so heißt es, zieht das ganze Leben an einem vorbei. Aber als ich starb, war es nur die Erinnerung an das letzte Jahr, die durch mich hindurchschoss. Zwölf Monate, die alles auf den Kopf stellten, was ich über das Leben und den Tod und die Dinge dazwischen zu wissen glaubte. Das Jahr, das kurz nach meinem sechzehnten Geburtstag im Dezember begann und an dessen Ende mein Herz aufhörte zu schlagen.
    Ich sah mich wieder auf dem Friedhof stehen, zwischen den Gerippen der Bäume, die sich dunkel gegen den blassen Winterhimmel abzeichneten. Die nackten Äste reckten sich in die Höhe, als wollten sie sich verzweifelt an den fahlgrauen Wolken festklammern, weil ihre Wurzeln im Boden keinen Halt mehr fanden. Ich wusste, wie sich das anfühlte, keinen Boden mehr unter den Füßen zu haben. Ohne Halt zu sein.
    Einzelne Schneeflocken irrten umher und sanken zwischen den Holzkreuzen zu Boden, fingen sich in den braunfleckigen Blumen der Kränze und Gestecke und schmolzen auf den Bändern mit Abschiedsworten und letzten Grüßen. Meinen Geburtstag hatten wir noch zusammen verbracht, ein Weihnachten hatte es für Mam nicht mehr gegeben. Es kam mir unwirklich vor, hier zu stehen, an diesem frischen Grab, vor der Haube aus Schnee und Blumenschmuck über dem ausgehobenen und wieder aufgeschaufelten Erdreich. Genauso unwirklich wie die Beerdigung vor gut einer Woche, als sich hier all die Menschen in Schwarz und Grau versammelt hatten, von denen ich viele kaum oder gar nicht kannte. Die mir einer nach dem anderen die Hand gegeben und mit belegter Stimme immer dieselben Beileidsfloskeln gemurmelt hatten, auf die ich nichts zu erwidern wusste. Unwirklich hatte das laute Weinen meiner sonst so beherrschten Oma geklungen, und während mein Opa sich immer wieder über die nassen Augen rieb, waren meine trocken geblieben, die Lider unnatürlich weit aufgerissen, wie festgeklebt. Als würde ich eine Rolle in einem Film spielen, so kam ich mir immer noch vor. In einem sehr, sehr falschen Film, in dem das alles jemand anderem passierte. Nicht mir.
    Trotz der warmen Stiefel waren meine Füße zu Eisklötzen erstarrt und mir war kalt. Ich zog die Schultern hoch und die zu kurz gewordenen Ärmel meiner dicken Jacke weiter über die Handgelenke. Keiner hatte daran gedacht, mir für diesen Winter eine neue zu kaufen, es war einfach nicht mehr wichtig gewesen. Ein frostiger Hauch streifte meine Wange und ich sah auf.
    Wenige Schritte von mir entfernt beugte sich eine alte Frau über eines der Grabkreuze. Einen weichen, fast ein bisschen verwunderten Ausdruck auf dem zerfurchten Gesicht, wischte sie mit der bloßen Hand den frischen Schnee von den Armen des Kreuzes. Ihre knotigen Finger zitterten dabei, vielleicht weil sie alt war, vielleicht weil sie um einen lieben Menschen trauerte. Vielleicht fror sie aber auch nur; die braune Strickjacke über dem geblümten Kleid war viel zu dünn für diesen kalten Tag, und ihre Füße, über denen die groben Wollstrümpfe Falten schlugen, steckten in vom Schnee durchweichten Filzpuschen. Als hätte sie gespürt, dass ich ihr zusah, hob sie den Kopf und blickte suchend umher. Von einem eigenartigen milchigen Blau waren ihre Augen, die sich mit meinen trafen und dann ungläubig weiteten. Ihr Mund öffnete sich zu einem stummen Laut, und vorwurfsvoll, beinahe anklagend richtete sie den Zeigefinger auf mich. Ich hatte keine Ahnung, wer sie war und was sie von mir wollte, und doch gelang es mir nicht, wegzuschauen oder mich umzudrehen. Es war wie in einem dieser Albträume, in denen man um Hilfe schreien will, aber keinen Ton herausbringt. So wie mein Leben in den vergangenen sechs Monaten zu einem einzigen bösen Traum geworden war, aus dem ich einfach nicht mehr aufwachte.
    »Amber.«
    So leise er meinen Namen auch aussprach, brach mein Vater damit doch den Bann, und ich wandte den Kopf. Die Hände tief in den Taschen seiner verwaschenen Jeans vergraben, sah er mich an, ein ebenso mitfühlendes wie unsicheres Lächeln um den schmalen Mund. Auch er hatte die Schultern unter seiner Daunenjacke hochgezogen und seine Nasenspitze war rot gefroren; er war solche kalten Winter nicht gewohnt.
    Mein Vater. Ich versuchte dauernd, es mir vorzusagen, um mich daran zu gewöhnen, aber es funktionierte nicht. Er blieb einfach nur Ted für mich.
    Mam hat immer steif und fest behauptet, ich sei nach der Heldin eines ollen Schmökers benannt, den sie als Mädchen heiß geliebt hatte. Aber ich war mehr davon
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