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Ausgesetzt

Ausgesetzt

Titel: Ausgesetzt
Autoren: James W. Nichol
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    1
    1995
    D
er dreijährige Walker Devereaux steht an einer Straße, auch wenn er zu klein ist, um sie zu sehen. Hohes Gras umgibt ihn, Gras von der gelbbraunen Farbe einer Löwenmähne in der späten Nachmittagssonne. Hin und wieder rauscht ein Auto vorbei.
    Er hält sich mit aller Kraft an einem Quadrat eines Maschendrahtzauns fest und schaut unverwandt hindurch, auf noch mehr Gras, das steil einen Hang hinaufwächst, auf silbriges Moos weiter oben und hoch aufragenden schwarzen Fels.
    »Halt dich fest«, hatte sie geflüstert, »halt dich ganz fest.« Ihr Schatten über ihm, ihr dunkles Haar, das herabfiel und sein Gesicht bedeckte, ihr warmer Atem an seinem Ohr.
    Aber er hielt sich ja schon fest, so fest, dass der Draht in seine Hand einschnitt, so voller Angst vor etwas oder jemandem, dass er es nicht wagte, seine Augen von diesem Quadrat und dem Gras abzuwenden. Und dann war sie verschwunden.
    Der rostige Draht färbt seine Hände orange, die Nachmittagssonne wird kälter. Er beginnt zu schwanken. Der Berg beugt sich über ihn, das hohe Gras marschiert wie eine Armee an ihm vorüber, schwatzend, die Fahnen zum Himmel gestreckt. Er konzentriert sich noch immer auf das Geräusch näherkommender Fahrzeuge, jedes bringt ihm die Mutter zurück, jedes fährt vorbei.
    Und dann bleibt eines stehen.
    Er hört, wie eine Autotür zugeschlagen wird. Sein Herz macht einen Sprung, aber er kann sich nicht umdrehen, um hinzusehen, er ist schon Teil des Zauns. Er kann sich nur mehr daran festklammern, den Hang hinaufstarren und warten.
    Eine Männerstimme ertönt. »Was hab ich gesagt? Komm herauf. Schau dir das an.«
    Er hört den Mann durchs Gras rascheln. Ein aufgedunsenes rotes Gesicht taucht aus der Düsternis auf, verharrt schwebend neben seinem Ohr.
    »Lass den Zaun los, Junge«, sagt das rote Gesicht.
    Aber er kann nicht, so sehr er es auch versucht, und so muss der Mann jeden seiner Finger einzeln vom Drahtgeflecht lösen, einen nach dem anderen.
    »Menschenskind«, sagt der Mann.
     
    So hatte alles begonnen. Das war das erste, woran der neunzehnjährige Walker Devereaux sich erinnern konnte. Er war ausgesetzt worden: nicht bei einem Freund oder dem Jugendamt abgegeben oder notfalls in irgendeinem schäbigen Motelzimmer »vergessen«, sondern am Straßenrand abgeladen wie ein lästiges Hundebaby. Und immer die Frage, die schmerzliche Frage,
warum?
    Der Bus machte einen Ruck. Der Verkehr floss immer langsamer, eine ununterbrochene Kette von Autos, Wohnmobilen und Bootsanhängern. Wochenendausflügler, die sich an einem Sonntagabend wieder nach Toronto hineinzwängten.
    Walker sah aus dem Fenster. So viele Leute, Großstädter. Schon kam er sich vor wie das letzte Landei.
    Er sah auf seine abgewetzten Jeans hinunter. Am rechten Knie war ein Riss, aber in seinem Fall war das kein Tribut an die Mode, sondern einfach nur ein Riss.
    Er versuchte, die Beine auszustrecken, ohne die Frau mittleren Alters zu berühren, die sich in den Platz neben ihm gequetscht hatte. An die sechzehn Stunden waren sie so nebeneinander gesessen, gelegentliche Berührungen waren unvermeidlich gewesen, aber gesprochen hatten sie so gut wie nichts. Einmal hatte sie ein Taschentuch herausgezogen und sich ein paar Tränen abgetupft. Walker hatte nicht gewusst, was er sagen sollte, also hatte er nichts gesagt. Er hatte angenommen, sie sei einsam, weil er einsam war, ohne seine Adoptivfamilie, ohne seine Freunde. Und ohne Cathy.
    Eines musste man seiner Familie lassen, da hielten alle zusammen. Am vergangenen Abend hatten sie eine Riesenfete für ihn veranstaltet, und auch am nächsten Morgen waren sie – alle außer seiner Mutter und seinen drei jüngeren Schwestern verkatert und mit Brummschädeln – ganz früh angetreten, um in der strahlenden Morgensonne tapfer mit ihm auf den Bus aus Thunder Bay zu warten.
    Und als der heranfuhr, überhäuften ihn alle seine sechs Schwestern mit guten Tips für das Überleben in der Großstadt, als ob sie eine Ahnung davon hätten, seine drei Schwäger schüttelten ihm die Hand, und Gerard Devereaux, sein ganzes Leben ein Waldarbeiter, sein ganzes Leben ein Trinker, schwieg wie immer inmitten der Weiberkakophonie, aber er sah Walker tief in die Augen, als ob er nicht damit rechne, ihn allzu bald wiederzusehen. Auf einmal fühlte er die Arme von Mary Louise Devereaux um seinen Hals und ihre Lippen fest auf seiner Backe und seinen Lippen; sein bester Freund Stewey half ihm, seine Sporttasche im Bauch des
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