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Ausgesetzt

Ausgesetzt

Titel: Ausgesetzt
Autoren: James W. Nichol
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sagte sie. Sie nahm zwei Aktenmappen, eine neu und dünn, die andere alt, dick und voller Eselsohren. Beide legte sie vor Walker hin und setzte sich ihm gegenüber.
    Walker bekam Herzklopfen. Da steht nichts drin, sagte er sich. Er war nur gekommen, um sich zu vergewissern, dass da nichts drinstand.
    »Wie fühlen Sie sich, Walker?«, fragte Carolyn.
    »Gut. Wieso?«
    »Nur so. Manchmal sind die Leute ein bisschen nervös, wenn sie Genaueres über ihre leiblichen Eltern und ihre Herkunft erfahren. Aber«, sie sah ihn mit aufrichtigem Mitgefühl an, »das hier ist die ungewöhnlichste Akte, die mir je untergekommen ist.«
    »Und wieso?«, fragte Walker.
    Sie warf einen Blick auf Stewey.
    »Flash und ich sind Kumpel«, beruhigte Stewey sie. »Stimmt’s, Flash?«
    Stewey nannte Walker »Flash«, seit Walker sich vor sechs Jahren in einem Eishockey-Jugendturnier freigelaufen hatte und über die blaue Linie der anderen Mannschaft gestolpert war.
    Walker nickte.
    Carolyn lächelte Stewey an, und er wurde wieder rot.
    »Diese Akte«, Carolyn tippte mit ihrem Stift auf die pralle, alte Mappe, »ich glaube nicht, dass die Sie besonders interessieren wird, aber Sie können Sie natürlich durchblättern. Da sind die üblichen Klientenberichte drin, wie Sie mit Ihren diversen Pflegefamilien und in der Schule zurechtkamen, und viele Briefe von den Lehrern und an die Lehrer. Und über ein paar Begegnungen mit der Polizei. Wegen Schlägereien. Davon gab’s ja wohl eine ganze Reihe, oder?« Sie sah zu Walker hoch. Er sah gut aus, mit seinen hohen Backenknochen, nur die Nase war flachgedrückt und schief.
    Walker grinste sie an. »Keine Schlägerei. Ein Hockeyschläger.«
    Sie errötete ein wenig und fuhr rasch fort. »Da sind die ganzen Unterlagen über die staatliche Vormundschaft. Und über den Umzug nach Thunder Bay. Aber die persönlichen Dinge und alles darüber, wieso Sie überhaupt der Fürsorge übergeben wurden, habe ich in eine kleinere Mappe getan, da ich mir dachte, dass Sie das am meisten interessiert.« Sie tippte mit dem Stift auf die nagelneue Mappe.
    »Persönliche Dinge«, wiederholte Walker und merkte, wie es ihm die Kehle zuschnürte. Er war sich nicht sicher, ob er wirklich wollte, dass sich etwas änderte. Er hatte sich an die Dinge gewöhnt, so wie sie waren. Es hatte auch Vorteile, eine Vergangenheit, so unendlich trostlos wie ein unbeschriebenes Blatt Papier zu haben. Man konnte alles darauf schreiben, was man wollte, und im Laufe der Jahre hatte er das auch getan. Vielleicht hatte seine Mutter ja einem Mafia-Clan aus New Jersey angehört, und sie wollte, dass ihr Kind geschützt vor einer Familienvendetta aufwuchs. Oder vielleicht war er ein entführter Millionenerbe aus Europa. Oder vielleicht – wegen seines rabenschwarzen Haares und seines dunklen Teints jahrelang als uneheliches Kind einer indianischen Säuferin gehänselt – war er ein halber Ureinwohner Amerikas, Abkömmling stolzer Krieger. Oder vielleicht war er wie Superman von liebenden Eltern von einem dem Untergang geweihten Planeten hierher geschickt worden, nur hatte er bis jetzt noch keine besonderen Fähigkeiten an sich entdeckt. Oder vielleicht …
    Carolyn sah ihn wieder mit diesem teilnahmsvollen, besorgten Blick an, der wohl mehr mit ihrem Charakter als mit ihrem Beruf zu tun hatte. »Vielleicht hätte ich nicht ›persönliche Dinge‹ sagen sollen«, erklärte sie. »Es gibt nur zwei Dinge, die man ›persönlich‹ nennen könnte. Im wesentlichen geht es darum, wie man Sie gefunden hat und was die Polizei alles unternommen hat, um ihre Identität festzustellen. Es gibt eine Zusammenfassung, die die Polizei der Provinz Ontario unserem Direktor geschickt hat. Nachdem sie, mmh …«
    »… aufgegeben hatten?«, ergänzte Walker.
    »Ja. Walker, Sie verstehen doch, dass ich Ihnen nicht dabei helfen kann, Ihre leiblichen Eltern ausfindig zu machen? Ich wünschte, ich könnte es, aber ich habe überhaupt keine Anhaltspunkte. Ich hatte zwei Fälle, wo ein Neugeborenes ausgesetzt und die Mutter niemals gefunden wurde. Das Ungewöhnliche an Ihrem Fall ist, dass Sie schon drei waren.«
    »Mehr oder weniger. Als ich schon größer war, hat Heather mir gesagt, dass ich nicht wusste, wann ich Geburtstag hatte. Also hat man mir einen verpasst. Den ersten Juli.«
    Zum ersten Mal sah es so aus, als wäre es Stewey unangenehm, dabei zu sein. Er betrachtete eingehend seine sauber abgekauten Fingernägel.
    Carolyn schlug den neuen Ordner auf,
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